
Proteste in Kolumbien "Die Gewalt geht nicht zurück"
Die Lage in Kolumbien spitzt sich zu. Bei Protesten gegen die Regierung sind erneut mehrere Menschen getötet worden. Die Polizei geht immer gewaltsamer gegen Demonstranten vor. Ein Konflikt, der immer wieder aufflammt.
Dort, wo der grüne Kleinlaster steht, fand ich ihn, sagt Esthefanie Blandón: "Er lag hier und war am Sterben. Ich bin zu ihm, habe noch versucht, seinen Puls zu fühlen, aber habe nichts mehr gespürt." Die junge Frau mit langen schwarzen Haaren steht auf der Einkaufsstraße von Siloé. Dahinter ein Labyrinth aus ineinander verschachtelten Ziegelhäusern, das sich den Hügel hinauf zieht.
Das Viertel ist eines der ärmsten der Stadt Cali und es ist der Ort mit den meisten Todesopfern während der Proteste, die Kolumbien seit einem Monat erschüttern. Einer war Kevin Antonio Agudelo, 22 Jahre alt, Elektriker, Fußballfan, Einzelkind und Esthefanies Freund. "Wir waren auf einer Gedenkveranstaltung für Nicolas Guerrero, einen anderen Jugendlichen, der getötet wurde. Es war sieben Uhr abends, die Leute zündeten Kerzen an und sangen. Dann tauchte die Polizei auf, sie schoss mit Tränengas, trieb die Menschen auseinander, ein Hubschrauber kreiste über uns, auch von dort wurde mit Gas geschossen."
Sie verlor Kevin aus den Augen, als sie ihn wiederfand, war er tot. Der 22-Jährige starb am 3. Mai durch einen Schuss in die Brust, mutmaßlich abgefeuert von Polizeikräften. Es laufen Ermittlungen.
Jedes Mal mehr Fälle von Gewalt
Zahlreiche Videos im Netz, Augenzeugenberichten, Reportagen zeigen, wie die kolumbianische Polizei mit brutaler Härte gegen Demonstranten vorgeht, teilweise unterstützt von in Zivil gekleideten Menschen. Es gibt Berichte von Prügel gegen Wehrlose, sexuellem Missbrauch, Verschwundenen. Die staatliche Ombudsstelle für Menschenrechte spricht inzwischen von 44 Toten. NGOs zählen sogar mehr als 60, davon sollen 28 in direktem Zusammenhang mit den Protesten stehen. Am Freitag waren in der Stadt Cali wieder mindestens vier Menschen getötet worden. Seit Ende April gab es in verschiedenen Städten des südamerikanischen Landes immer wieder Proteste und auch Ausschreitungen.
Die meisten der Toten seien Demonstranten, sagt José Miguel Vivanco, Amerika-Direktor von Human Rights Watch. "Leider registrieren wir jedes Mal mehr Fälle. Die Gewalt geht nicht zurück. Und wir sehen eine Polizei, die auf eine völlig unprofessionelle Art und Weise und mit extremer Gewalt auf die Proteste reagiert." Es werde nicht zwischen gewalttätigen Randalierern und friedlichen Demonstranten unterschieden. Die Polizei müsste das durch die Verfassung garantierte Recht eigentlich schützen, erklärt Vivanco, aber dafür seien sie überhaupt nicht vorbereitet.
Befördert werde die Gewalt auch durch einen Kurs der harten Hand, so Vivanco. Nachdem Präsident Iván Duque die Demonstranten zunächst in die Nähe von Terroristen und kriminellen Banden rückte, verurteilte er inzwischen Fälle von Polizeigewalt. "Leider hält der Präsident daran fest, dass es um Einzelfälle geht, um ein paar faule Äpfel", kritisiert Vivanco. Aber die Beweise zeigten das Gegenteil, es gehe um ein strukturelles Problem und das müsse endlich angegangen werden.
Rufe nach einer Polizeireform
Kolumbiens Polizei untersteht dem Verteidigungsministerium. Ein Erbe der langen Geschichte der Gewalt im einstigen Bürgerkriegsland. Sie gehorche einer militärischen Logik, erklärt Vivanco. Dies behindere zudem eine transparente Aufklärung von institutionellem Machtmissbrauch und befördere eine Kultur der Straflosigkeit. Die Rufe nach einer Polizeireform sind zu einer der zentralen Forderungen der Proteste geworden.
Esthefanie Blandón geht auch einen Monat nach dem Tod ihres Freundes Kevin weiter auf die Straße. "Zu sagen, Kevin starb nicht umsonst, gibt mir etwas Frieden", sagt sie. "Jeden Tag sehen wir mehr, die, wie er, auf die Straße gehen, um wie er für eine bessere Zukunft und ein gerechteres Land zu demonstrieren." Auf Druck von Menschenrechtsorganisationen hat die kolumbianische Regierung nun zugestimmt, Vertreter der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) ins Land zu lassen, um die Gewalt im Zusammenhang mit den Protesten zu untersuchen.