Interview

Interview zur Lage in Kirgistan "Die Menschen wollen nur noch ihr Leben retten"

Stand: 15.06.2010 12:29 Uhr

An der Grenze zu Usbekistan warten Zehntausende, um aus Kirgistan zu fliehen. Es fehlen Medikamente, Nahrung und Wasser, beschreibt eine Usbekin im tagesschau.de-Interview die Lage vor Ort. Es sei ein von außerhalb gesteuerter Genozid gegen Usbeken, aber auch gegen andere Minderheiten.

tagesschau.de: Sie sind derzeit an der kirgisisch-usbekischen Grenze. Wie können Sie die Lage dort beschreiben?

Tamara Mihailova: Ich bin südlich der Stadt Osch in einem von Usbeken bewohnten Dorf auf der kirgisischen Seite der Grenze. Es kommen immer mehr Frauen, Kinder, Schwangere, alte und kranke Menschen hier an. Viele von ihnen kommen auf Höfen nahe der Grenze unter. Die Bauern schlachten sogar ihr Vieh, damit wir etwas zu essen bekommen.

Flüchtlinge mit medizinischer Ausbildung haben einen Erste-Hilfe-Punkt eingerichtet, um die Verletzten notdürftig zu versorgen. Wir wollen nicht abhängig sein von Hilfe von außerhalb. Aber es fehlt an Medikamenten, Nahrung und es gibt nicht genug Wasser. Ich habe hier niemanden von internationalen Organisationen oder Experten gesehen, die Hilfe leisten würden.

tagesschau.de: Dürfen noch Menschen über die Grenze nach Usbekistan?

Mihailova: Die Grenze ist momentan zu. Man sagt, dass Zehntausende schon über die Grenze gegangen sind und dass es auf usbekischer Seite im Moment keine Kapazitäten mehr gibt, die Menschen aufzunehmen und zu versorgen. Es wird jetzt erwartet, dass die Flüchtlinge in Usbekistan verteilt werden und die Grenzen dann wieder aufgemacht werden, um mehr Menschen durchzulassen.

tagesschau.de: Wollen die Menschen, die an der Grenze ausharren, alle nach Usbekistan?

Mihailova: Die Menschen, die gesehen haben, wie auf Unschuldige geschossen wurde und wie alles niedergebrannt wurde, wollen unbedingt weg. In Osch herrscht Gesetzlosigkeit und Straflosigkeit. Man hört Schüsse und niemand weiß, wer das ist. Die Häuser an den Hauptstraßen sind niedergebrannt.

Andere wollen aber bleiben. Sie sind der Meinung, dass sie niemandem etwas getan haben und deshalb aus ihrer Heimat nicht vertrieben werden wollen. Noch vor ein paar Tagen haben die Menschen friedlich neben- und miteinander gelebt.

Zur Person

Tamara Mihailova ist eine Usbekin aus Osch. Sie studiert in Deutschland und war auf Besuch bei ihren Verwandten, als die Unruhen ausbrachen. Derzeit sitzt sie an der kirgisisch-usbekischen Grenze fest und versucht, Informationen über die verletzten und getöteten Menschen zu sammeln. Ihren richtigen Namen möchte sie aus Sicherheitsgründen nicht nennen.

"An den Flughäfen wurden Waffen verteilt"

tagesschau.de: Wie konnte es dann zum Ausbruch der Gewalt kommen?

Mihailova: Man erzählt hier, nicht die Menschen in Osch und aus dem Süden hätten angefangen, sondern Leute von außerhalb, die hier nichts zu verlieren hätten. Ich glaube, es gibt Provokateure, die den Hass der Kirgisen auf die Usbeken anfeuern und umgekehrt.

An den Flughäfen kamen Waffen an und wurden an Leute verteilt, die keine Ahnung vom Umgang damit haben. Man redet hier davon, dass die Zusammenstöße eigentlich erst für den 20. Juni (kurz vor dem Verfassungsreferendum, Anmerkung der Redaktion) geplant waren, aber dass die Unruhen dann doch schon vorher ausgebrochen sind.

Es sind aber auch viele andere Minderheiten wie Tataren, Turkmenen und Tadschiken betroffen, an die man nicht denkt, weil die Usbeken unter den Minderheiten die Mehrheit stellen. Man redet hier von einem Genozid an Nicht-Kirgisen.

"Die Menschen wollen nur noch ihr Leben retten"

tagesschau.de: Offiziell heißt es, es gebe bislang 170 Tote. Was sagen Sie zu den Angaben der Übergangsregierung in Bischkek?

Mihailova: Die Informationen, die die kirgisische Regierung gibt, sind teilweise nicht vollständig oder auch falsch. Wenn sie behauptet, dass medizinische Hilfe geleistet wird, kann ich das nicht bestätigen. Auf den Straßen liegen Verletzte, die auf Hilfe warten.

Auch die offiziellen Angaben zu den Toten stimmen unserer Meinung nach nicht. Wir verteilen seit drei Tagen unter den hier ankommenden Frauen Fragebögen, mit denen wir nach Angaben zu verletzten und getöteten Verwandten fragen. Wir haben die Namen und Geburtsdaten aufgenommen und verglichen. Allein in zwei Tagen sind Namen von 159 Menschen zusammengekommen, die getötet wurden. Die waren unbewaffnet, und oft waren es Jugendliche unter 15 Jahren und auch alte Menschen.

Diese Ungerechtigkeit verstehe ich nicht. Das tut mir einfach weh. Den Menschen hier geht es nicht mehr darum, ihr Eigentum zu sichern, sie wollen nur noch ihr Leben und das ihrer Verwandten retten.

Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de