
Corona in Zentralasien Hilfe für die Kinder von Kirgistan
Einsamkeit, Perspektivlosigkeit, Gewalt - in Kirgistan hat der Corona-Lockdown die Situation vieler Jugendlicher verschärft. Seit Anfang März nahmen sich 32 das Leben. Ein Mentorenprogramm soll ihnen helfen.
"Guten Morgen, es ist 6 Uhr morgens", sagt Anelja in die Kamera ihres Smartphones, leicht außer Atem vom Joggen in der frischen kirgisischen Bergluft. "Ehrlich gesagt verstehe ich Menschen nicht, die keine Zeit zum Joggen haben. Die Gesundheit ist doch das allerwichtigste im Leben." Anelja Kubat Kysy, 18 Jahre alt, lebt im kleinen Dorf Min-Kusch. Seit Kurzem sprudelt sie geradezu vor Motivation. Dank ihres neuen Mentors, den sie mit Hilfe der Initiative "Du bist nicht allein" kennengelernt hat.
Über Videocall spricht sie seit Anfang Mai regelmäßig mit Ulukbek Israilow. Er ist 20 und studiert in der Hauptstadt Bischkek Psychologie. Getroffen haben sie sich nie, nennen sich aber schon jetzt beste Freunde. "Am Anfang war Anelja ein sehr verschlossenes Mädchen, aber mit der Zeit hat sie sich geöffnet und wir haben angefangen, uns zu unterhalten."

Ulukbek und Anelja im Videochat: Für Kinder und Jugendliche in Kirgistans Bergwelt war das Leben vor Corona schon nicht leicht. Der Lockdown hat ihre Situation verschlechtert. Bild: WDR-Studio Moskau
Herausforderungen gegen die Langeweile
Gegen Langeweile und Depression in der Corona-Zeit stellen sie sich gegenseitig Aufgaben: Ein Buch pro Woche lesen, um sechs Uhr aufstehen und joggen oder neue Sprachen lernen. Für Ulukbek geht es darum, sein psychologisches Wissen praktisch anzuwenden - und den teils sehr einsamen kirgisischen Jugendlichen zu helfen. Bei Anelja kommt das an.
"Ich habe von ihm viel gelernt, zum Beispiel wie man ein Business aufbaut," sagt Anelja. Sie hat sich ein neues Ziel gesetzt: Sie möchte erfolgreiche Geschäftsfrau werden. "Dafür muss man an sich glauben." Auch den Satz hat sie von Ulukbek.
Reihe von Selbstmorden
Den Mentor hat Anelja der Initiative von Banur Abdiewa zu verdanken. Der Pädagogin kam die Idee kurz nach Beginn der strengen Corona-Ausgangssperren im Land. "Wir waren sehr betrübt von der Tatsache, dass an Covid-19 während der ersten zwei Quarantänewochen ein Mensch gestorben ist und es in der gleichen Zeit neun Selbstmorde von Jugendlichen in Kirgistan gab.” Seit Jahresbeginn bis Ende März haben sich sogar 32 Jugendliche in Kirgistan das Leben genommen.
Mit Freunden hat Abdiewa entschieden, die Initiative "Du bist nicht allein!" zu gründen. Sie brachte Freiwillige, Psychologen und sogar kirgisische Stars zusammen. 106 Mentorenpaare sind so zustande gekommen. "Die Stars zum Beispiel machen Wettkämpfe: Sie setzen eine Deadline von vier Tagen. Am fünften Tag müssen die Jugendlichen ihre Arbeit zeigen, etwa ein kurzes Video oder ein Essay."
Bei den Stars ist auch eine Parlamentsabgeordnete und eine volkstümliche Sängerin dabei. "Wir haben das Ziel, die Kinder aus ihrer inneren Unruhe herauszuholen, sie zu Gesprächen und Freizeitaktivitäten zu motivieren, die Sinn geben." Am Ende, so ist Abdiewa überzeugt, würde das die Jugendlichen von Selbstmordgedanken abbringen. Sie plant, auch nach der Corona-Krise weiterzumachen. Ein Ferienlager könnte entstehen, die Volkssängerin will Jugendliche auf ein Festival einladen.
Corona verschärft Einsamkeit
Kirgisistan ist eigentlich ein Paradies für Bergtouristen. 95 Prozent des Landes sind Berge. Doch Touristen sind derzeit keine da. Wegen Corona hat das Land den Ausnahmezustand und einen Einreisestopp verhängt, auch Grenzen zwischen Regionen wurden geschlossen. Das Militär errichtete Checkpoints. Ergebnis der strengen Regeln: 1845 bestätigte Corona-Fälle, nur 17 Tote.
Doch für die Kinder sind die scharfen Ausgangsregeln hart. 40 Prozent der kirgisischen Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche. Aber drei von vier Kindern haben Gewalt in der Familie erlebt, berichtet die Kinder-Hilfsorganisation UNICEF. "Vor allem in unserem Projekt sind es Kinder von Gastarbeitern, die nach Russland oder in die Ukraine gefahren sind, um dort Geld zu verdienen", sagt Kurmanzhan Kurmanbekova, die die Initiative als psychologische Expertin berät. "Diese Kinder werden in Kirgistan bei Tanten, Onkeln oder anderen Verwandten untergebracht und da bekommen sie nicht die Zuneigung, das Verständnis und die Liebe, die jedes Kind braucht. Nicht selten hört man von solchen Situationen, wo diese Verwandtschaft die Kinder missbraucht. Die Kinder werden nicht geschützt."
"Alleine auf der Welt"
Kurmanbekova sagt, dass über solche Probleme oft nicht gesprochen werde - und soziale Einrichtungen in Kirgistan nicht so gut funktionieren würden wie etwa in Deutschland. Kurmanbekova kann den Vergleich ziehen, sie ist als Psychologin in Tübingen tätig und berät die Initiative in ihrem Heimatland Kirgistan aus der Ferne. Das Gefühl vieler Kinder beschreibt sie so: "Wenn meine Mutter, mein Vater nach Russland gegangen ist und mich nicht mitgenommen hat, dann hat das Kind das Gefühl, dass es alleine auf der Welt ist."
Sie habe keinen Vater, sagt Anelja. Sie lebt mit ihrer Mutter zusammen. Psychologie-Student Ulukbek, ihr Mentor, plant, Anelja persönlich zu treffen. Bisher ist das wegen der Corona-Regeln noch nicht möglich. "Früher hätte ich nicht gedacht, dass man über das Netz einen besten Freund finden kann, aber Anelja hat mir das Gegenteil bewiesen."
