interview

Gewalt in Israel Jugend ohne Perspektive

Stand: 15.10.2015 19:03 Uhr

Die Attacken junger Palästinenser in Israel zeigen deren Perspektivlosigkeit, aber auch den Frust über die PLO-Führung um Abbas, meint Walter Klitz von der Naumann-Stiftung. Eine dritte Intifada sei die neue Welle der Gewalt aber noch nicht, sagt er zu tagesschau.de.

tagesschau.de: Warum kocht der Konflikt mit den vermehrten Angriffen in Jerusalem und andernorts gerade jetzt wieder hoch?

Walter Klitz: Dafür gibt es mehrere Gründe. Der erste ist in der Hoffnungslosigkeit der Palästinenser begründet. Das betrifft vor allem die Jugendlichen. Die überwiegende Zahl der Attentäter ist sehr jung - gerade einmal zwischen 13 und 19 Jahre alt. Es kommt also in der jetzigen Gewalt eine Perspektivlosigkeit zum Ausdruck. Die Arbeitslosigkeit in den Palästinensischen Gebieten ist extrem hoch - gerade bei den Jugendlichen. In besonderem Maße trifft das auf den Gazastreifen zu, wo 60 Prozent der Jugendlichen keinen Job haben.

Zweiter Grund dürfte sein - und das sieht man schon in der zeitlichen Nähe -, dass Palästinenserpräsident Abbas jüngst in seiner Rede vor den Vereinten Nationen nicht die Erwartungen der Palästinenser erfüllt hat.

Zur Person

Walter Klitz ist seit Juli 2012 Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Israel und den Palästinensischen Gebieten. Nach Abschluss des Jurastudiums in Bonn wurde er Leiter des Büros des Parlamentarischen Geschäftsführers der FDP-Bundestagsfraktion. Klitz arbeitet seit 1994 für die FDP-nahe Stiftung, unter anderem in Tallinn, Washington, Seoul und Jerusalem.

tagesschau.de: Welche Erwartungen meinen Sie?

Klitz: Aus Sicht der Palästinenser hat er nicht Tacheles geredet. Anders als allgemein spekuliert kündigte Abbas vor den Vereinten Nationen weder die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel noch die Osloer Friedensverträge mit Oslo auf. Er formulierte zwar, dass er sich nicht an die Osloer Verträge gebunden fühle, solange Israel seine Verpflichtungen nicht erfülle - doch das ist nichts Neues. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Auch von einem Rücktritt will Abbas weiter nichts wissen. Und das lähmt die palästinensische Politik und gibt der Frustration unter den jungen Menschen Auftrieb.

"Wir haben ein politisches Vakuum"

tagesschau.de: Wenn Abbas und die Fatah kein Vertrauen mehr genießen - an wem orientieren sich die jungen Menschen, die jetzt zur Gewalt neigen, dann?

Klitz: Wir haben ganz klar ein politisches Vakuum bei den Palästinensern - und das bleibt bestehen, solange die Nachfolgefrage bei Abbas nicht geklärt ist und dessen alte Parteikaste weiter an der Macht ist. Nutznießer ist unter anderem die radikal-islamische Hamas, was man auch an Meinungsumfragen sieht. Sie bekommt immer mehr an Zuspruch - gerade bei jungen Menschen. Nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Westjordanland. Die Hamas bestärkt die Angreifer noch in ihren Taten und erhebt sie zu Märtyrern.

tagesschau.de: Sehen Sie überhaupt eine Figur, die Abbas ersetzen könnte?

Klitz: Im Gespräch ist zurzeit nur Saeb Erekat, der erst im Juli von Abbas zum neuen Generalsekretär der PLO ernannt wurde. Der 60-Jährige hat sich bei den Friedensverhandlungen mit Israel nach dem Gazakrieg im vergangenen Jahr einen Namen gemacht. Ob er aber eines Tages tatsächlich die Nachfolge von Abbas antreten wird - da gibt es noch viele Fragezeichen.

tagesschau.de: Neben der grundsätzlichen Hoffnungslosigkeit vieler Palästinenser - inwiefern hat die ständig eskalierende Gewalt am Tempelberg die Situation weiter verschärft?

Klitz: Die Lage am Tempelberg trägt maßgeblich zur angespannten Situation bei - und hier lassen sich auch Parallelen zur zweiten Intifada (Anm. d. Red.: Aufstand der Palästinenser von 2000 bis 2005) erkennen. Immer wenn Juden auf dem Tempelberg beten wollen, gibt es auf der palästinensischen Seite massiven Widerstand - mal lautstark, mal mit Gewalt. Denn eigentlich dürfen in den Stätten dort nur muslimische Gebete abgehalten werden.

Konkreter Anlass der Gewalt am Tempelberg diesmal war, dass einige nationalreligiöse Juden während des Ramadan dort beten wollten. Eine Provokation, die auf Seiten der Palästinenser zu massiven Protesten geführt hat. Zugleich befeuerte das bei ihnen die Angst, die israelische Regierung könnte irgendwann diesen Kräften nachgeben - und den Status des Tempelbergs mit den besonderen Rechten für Muslime verändern. Auch wenn die Regierung Netanyahu beteuert, dies nicht zu planen.

"Noch keine dritte Intifada"

tagesschau.de: Sie haben die zweite Intifada angesprochen - einige Beobachter sehen in der neu aufflammenden Gewalt schon die dritte Intifada. Zu Recht?

Klitz: Ich gehe zwar davon aus, dass die Gewalt weiter eskalieren wird. Wie schon angesprochen: Das Vertrauen in die politisch Handelnden ist gering, Abbas ohnehin nicht mehr in der Lage, die Situation zu kontrollieren. Die Gefahr einer dritten Intifada ist also da - zum jetzigen Zeitpunkt würde ich allerdings davon noch nicht sprechen wollen. Was wir bis jetzt sehen, sind einzelne Messerattacken oder dass Autos eingesetzt werden, um Menschen zu überfahren. Bei der zweiten Intifada gab es über einen Zeitraum von fünf Jahren etwa 20.000 Anschläge und fast 200 Selbstmordattentäter. Das ist noch eine ganz andere Dimension.

"Eine Situation der Ohnmacht"

tagesschau.de: Wie groß ist die Angst in der Bevölkerung in Israel vor neuen Angriffen? Und wie zeigt sich das im Alltag?

Klitz: Es herrscht eine Situation der Ohnmacht vor, die ins tägliche Leben eingreift. Zum Beispiel sind die Menschen nach Möglichkeit nicht mehr zu Fuß unterwegs. Sie fahren mit dem Auto zum Einkaufen, versuchen, Plätze zu meiden, die gefährlich sein könnten und gehen Menschenansammlungen aus dem Weg. Die Restaurants bleiben leer. Die Ohnmacht zeigt sich also darin, dass man sich nicht mehr frei bewegen kann.

Sie zeigt sich aber auch auf Seiten der politisch Handelnden. Der israelische Staat kann auch durch präventive Maßnahmen die Menschen vor derartigen Messerattacken kaum schützen. Jemanden im Vorfeld zu identifizieren, der einfach nur mit einem Messer durch die Gegend geht und dann plötzlich Attentate verübt - das ist so gut wie unmöglich. Dennoch halte ich die jetzt ergriffenen Maßnahmen der israelischen Regierung, unter anderem auch die Abriegelung arabischer Stadtteile im Osten Jerusalems, für richtig.

Gleichzeitig muss man betonen, dass es auch politische Strömungen in Israel gibt, die die jetzige Situation anheizen und noch Öl ins Feuer zu gießen. An vorderster Front ist da die Siedlerpartei, die nicht einsehen will, dass ihr permanentes Eintreten für weitere jüdische Siedlungen im Westjordanland mit eine Ursache für die neue Gewalt und den Unmut der Palästinenser ist.

Handschlag von Jitzak Rabin und Jassir Arafat mit Bill Clinton
Die Verträge von Oslo

Die Osloer Verträge wurden am 13. September 1993 in Washington unterzeichnet. Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO einigten sich darin, eine palästinensische Selbstverwaltung zu bilden, die in Wirtschafts- und Sicherheitsfragen mit Israel kooperiert. Die PLO verpflichtete sich im Gegenzug, aus ihrer Charta alle Passagen zu streichen, die die Vernichtung Israels als Ziel enthielten. Beide Seiten erkannten sich damit erstmals offiziell an.

Im September 1995 einigten sich der damalige israelische Ministerpräsident Rabin und der damalige Palästinenserpräsident Arafat auf ein erweitertes Autonomieabkommen für das Westjordanland ("Oslo II"). Der erwartete Durchbruch zu einer Friedensregelung durch den "Oslo-Prozess" blieb jedoch aus.

Quelle: dpa

"Osloer Verträge sind der zentrale Pfeiler"

tagesschau.de: So wie Sie die Situation beschreiben, liegt eine Lösung des Konflikts ferner denn je. Dennoch: Wie könnte ein Ausweg aussehen, den alle mittragen?

Klitz: Das Format der vergangenen Friedensverhandlungen 2013/2014 - bestehend aus Vereinten Nationen, EU, Russland und USA - halte ich nach wie vor für die beste Grundlage, um einen neuen Anlauf für Friedensverhandlungen zu starten. Denn damals war auch die Arabische Liga in den Friedensprozess indirekt eingebunden, was ein enormer Fortschritt war. Auch wenn sich die Konfliktparteien an die Osloer Verträge aus den 1990er-Jahren kaum noch gebunden fühlen - das ist der zentrale Pfeiler und eine gute Basis, etwa weil sich Israel und PLO dort gegenseitig als Vertragspartner akzeptieren. Wir im Westen sollten also darauf drängen, an diese Verträge anzuknüpfen.

Das Interview führte Jörn Unsöld, tagesschau.de.