Hintergrund

Worauf sich der "Islamische Staat" beruft Die Ideologie des Terrors

Stand: 02.06.2015 17:53 Uhr

In Paris hat die internationale Koalition beraten, wie der Vormarsch des IS zu stoppen sei. Doch die krude Ideologie der Terrormiliz hat hohe Anziehungskraft. Worauf beruft sich der IS und was hat das mit dem Islam zu tun?

Von Sandra Stalinski, tagesschau.de

Bald könnte der Sturm auf Bagdad drohen. Nachdem die Terrororganisation des IS halb Syrien und weite Teile des Iraks nahezu überrannt hat, wächst der Druck auf die irakische Hauptstadt. Auch wenn die internationale Koalition alles daran setzen wird, die Stadt zu schützen. Aber die Terrormiliz ist bereits bis Ramadi vorgedrungen, 100 Kilometer von Bagdad entfernt. Für den IS hätte die Eroberung Bagdads einen hohen Symbolwert, ein wichtiges Etappenziel wäre erreicht, das der selbst ernannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi schon in seinem Namen dokumentiert.

Erstmals ein von Dschihadisten gelenkter Staat

Erstmals in der Geschichte haben wir es bei den vom IS kontrollierten Gebieten mit einem von Dschihadisten gelenkten Staatswesen zu tun: Am 29. Juni 2014 überraschte der IS die Weltöffentlichkeit, indem er ein Kalifat ausrief und al-Baghdadi zum Kalifen bestimmte. Gleichzeitig änderte die Organisation "ISIS - Islamischer Staat in Irak und Syrien" ihren Namen in "Islamischer Staat" IS, um deutlich zu machen, dass sie eine Expansion über die Grenzen des Irak und Syriens hinweg anstreben. Ein Propagandabegriff, der glauben machen soll, dass nun die Zeit des Kalifen und eines Staates im ursprünglich islamischen Sinne gekommen sei.

"Der IS versucht ein Gesellschaftsmodell zu etablieren, das auf der vermeintlich unverfälschten Anwendung koranischer Geboten und Aussagen des Propheten beruht", sagt der Leipziger Islamwissenschaftler Christoph Günther im Gespräch mit tagesschau.de. "Dabei übernimmt der IS in der Gegenwart ein idealisiertes Modell aus der islamischen Frühzeit, in dem das Verhältnis von Machthaber, muslimischer Gemeinde und Gott genau geregelt ist." Damit knüpft der IS, laut Günther, an klassische sunnitisch Staatstheorien aus dem 11. bis 14. Jahrhundert an.

Sunnitische Staatstheorien aus dem 11. Jahrhundert

Festgehalten hat der IS diese Vorstellungen seines Staatswesens in einem programmatischen Gründungsdokument aus dem Jahr 2007, über das der Islamwissenschaftler Günther promoviert hat. In dem 90-seitigen Dokument mit dem Titel "Benachrichtigung der Gläubigen über die Geburt des islamischen Staates" rechtfertigt die Organisation, die sich damals noch "Islamischer Staat im Irak" (ISI) nennt, die Ausrufung eines eigenen Staates: Die Sunniten lebten nach wie vor unter Fremdherrschaft und verfügten anders als die Kurden im Norden des Iraks und die Schiiten im Süden nicht über ein eigenes Staatswesen.

Kiefer: "Gedanke des Kalifats wirkt anziehend"

Und weil laut einem Spruch des Propheten Mohammed Muslime von einem Muslimen regiert werden müssten, brauche es einen Emir, also einen Befehlshaber. Ein Schiit käme dafür nicht in Frage, denn Schiiten werden nicht als rechtmäßige Muslime anerkannt. Der "Kalif" al-Baghdadi nimmt den Emir-Titel für sich in Anspruch. Sein ziviler Name Ibrahim Awwad al-Badri wird gelegentlich mit dem Beinamen al-Quraschi versehen, was suggeriert, dass al-Baghdadi direkt aus dem Stamm des Propheten Mohammed kommt. Laut verschiedener islamischer Überlieferungen ist das Voraussetzung für das Amt des Kalifen. Dass das bei al-Baghdadi tatsächlich zutrifft, ist jedoch nicht belegt.

Insbesondere der Gedanke des Kalifats wirkt auf die Anhänger des IS sehr anziehend, sagt der Islamwissenschaftler Michael Kiefer. "Vorher gab es Kämpfe in verschiedenen Regionen der Welt, jetzt gibt es ein Staatswesen in islamischem Stammland." Zudem seien die Kämpfer der Auffassung, sie befänden sich im Endkampf. Denn eine 1300 Jahre alte apokalyptische Prophezeiung, die auf den Propheten selbst zurückgehen soll, besagt, dass eine "Armee der Gerechten" bei der syrischen Stadt Dabiq eine historische Schlacht schlagen werde. Von dort werde die Eroberung der Welt stattfinden.

Alkohol, Zigaretten, Waffen und Versammlungen verboten

Der IS vertritt einen extrem anti-westlichen Islamismus. In seinem Herrschaftsgebiet führte die Terrormiliz die Scharia ein und formulierte strikte Regeln für den Alltag der Bewohner: Demnach sind Alkohol und Zigaretten sowie Versammlungen oder das Tragen von Waffen verboten, Dieben wird die Hand abgehackt, Frauen müssen bedeckende Kleidung tragen und sollen nur im Notfall ihre Häuser verlassen. Menschen, die sich nicht der Koran-Interpretation des IS anschließen gelten als Ungläubige und müssen verfolgt werden. So rechtfertigen die Islamisten die Tötung Zehntausender Jesiden, Christen und schiitischer Muslime.

Mit dem Islambild der allermeisten Muslime hat das wenig zu tun. Dennoch gibt es seit geraumer Zeit eine Kontroverse darüber wie islamisch die Ideologie des IS sei. Immerhin beruft sich der IS auf zahlreiche Koranverse und Überlieferungen. Manche Islamwissenschaftler und Experten behaupten deshalb, dass sich in Koran und Sunna (nach dem Koran die zweite Quelle religiöser Normen) durchaus Textpassagen fänden, die dschihadistische Positionen theologisch legitimierten. In Sure 9, Vers 5 heißt es beispielsweise:

(...) tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie, lauert ihnen überall auf! Wenn sie sich aber bekehren, das Gebet verrichten und die Almosensteuer geben, lasst sie ihres Weges ziehen!

Andere widersprechen vehement: So hält beispielsweise der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy neosalafistische Interpretationen, wie die des IS, für eine "Mutation von Religion". Die heiligen Texte würden hier außerhalb des kulturellen und historischen Kontextes wortwörtlich genommen und verabsolutiert.

IS verstößt laut Gelehrten gegen islamische Prinzipien

Auch eine Stellungnahme von 120 islamischen Gelehrten, die im September 2014 veröffentlicht wurde, weist nach, dass der IS gegen fundamentale islamische Prinzipien verstößt. Schon die Ausrufung des Kalifats erklären die mehrheitlich konservativen Gelehrten für unrechtmäßig, da diese nur im Einvernehmen mit allen Muslimen geschehen könne. Aber viele islamische Gruppierungen verurteilen den IS. Weiterhin heißt es beispielsweise: "Es ist im Islam verboten, Sendboten, Botschafter und Diplomaten zu töten; somit ist es auch verboten, Journalisten und Entwicklungshelfer zu töten." Oder: "Es ist im Islam verboten, die Menschen zur Konvertierung zu zwingen." Genau das tut der IS aber.

Der IS bedient sich einer vereinfachten, reduktionistischen Theologie. Ihm reichen die 17 Verse des Koran, die Gewalt legitimieren, die Friedensbotschaft des Koran blendet er aus, meint die deutsch-türkische Publizistin Necla Kelek. Gerade in dieser Einfachheit und Klarheit liegt aber ein Teil der Anziehungskraft des IS. Die Vertreter der traditionellen komplexen islamischen Lehren haben es schwer, dagegen anzukommen.

Woher kommt der IS?

Die Wurzeln des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) reichen zurück in die Zeit des Irak-Kriegs. Nachdem der sunnitische Machthaber Saddam Hussein 2003 gestürzt worden war, löste der damalige US-Besatzungsverwalter Paul Bremer die irakische Armee und die Baath-Partei auf - die bisherige Elite des Landes stand vor dem Nichts. Über Nacht waren tausende Offiziere arbeitslos, Sunniten hatten im politischen System nichts mehr zu sagen. Aus diesen Reihen rekrutierte sich fortan zu großen Teilen der bewaffnete Widerstand gegen die US-Besatzung.

Auch dadurch fand Al Kaida hier nach der Vertreibung aus Afghanistan ein ideales neues Betätigungsfeld. 2004 gründete der jordanisch-stämmige Terrorist Abu Mussab al Sarkawi Al Kaida im Irak (AQI), eine besonders brutalen Bewegung, deren Markenzeichen medial inszenierte Morde sind. 2006 wurde al Sarkawi bei einem US-Luftangriff getötet, seine Organisation bestand jedoch weiter und nannte sich nun Islamischer Staat im Irak (ISI). Den alliierten Truppen gelang es zwar zunächst, ISI in den Untergrund zu drängen, nachdem aber die Amerikaner 2011 aus dem Irak abgezogen waren, gewann die Bewegung wieder an Boden.

Im gleichen Jahr trat ISI in den syrischen Bürgerkrieg ein und eroberte Territorien im Osten des Landes. Im April 2013 verkündete der jetzige Anführer Abu Bakr al-Baghdadi, dass ISI sich mit dem syrischen Al Kaida-Zweig "Al Nusra" zum "Islamischen Staat im Irak und in Syrien" (ISIS) vereinigen werde. Al Kaida war in diesen Schritt offenbar nicht eingeweiht - es kam zum Bruch, zahlreiche Al-Nusra-Kämpfer distanzierten sich von ISIS, es kam zu Kämpfen zwischen den beiden Gruppierungen. Später erklärte Al Kaida die Zusammenarbeit mit ISIS für beendet.

Im Irak betrieb ISIS eine geschickte Bündnispolitik mit Anhängern der Baath-Partei und sunnitischen Stammenskriegern. Im Juni 2014 rief ISIS ein Kalifat aus und bestimmte al-Baghdadi zum Kalifen. Gleichzeitig änderte die Organisation ihren Namen in "Islamischer Staat" (IS), weil sie eine Expansion über die Grenzen des Irak und Syriens hinweg anstrebt.