Interview

Interview zur Lage in Ungarn "Die machen, was sie wollen - solange es geht"

Stand: 12.01.2012 02:45 Uhr

Die Lage in Ungarn sorgt für viel Kritik - nicht zuletzt seitens der EU. tagesschau.de sprach mit dem deutschen Betreiber des regierungskritischen Blogs "Pusztaranger" darüber, warum er anonym bleiben will, über die Rolle des Internets für die Opposition - und seine Erwartungen an die europäische Öffentlichkeit.

tagesschau.de: Sie willigen in ein Interview mit uns ein, aber nur anonym und schriftlich. Vor einem Jahr begründeten Sie das in einem Radiointerview mit Drohungen und Hasstiraden seitens ungarischer Rechtsextremisten. Sind es noch immer dieselben Gründe - oder gibt es inzwischen noch andere?

Pusztaranger: Das ist nach wie vor aktuell, aber seit 2010 beschäftige ich mich nicht mehr nur mit der rechtsextremen Partei Jobbik & Co, sondern auch mit der Orban-Regierung. Ich weiß, dass der Blog von regierungsnahen Kreisen gelesen wird. Mittlerweile habe ich Insiderinformationen von mehreren Leuten bekommen, die in Ungarn im öffentlichen Dienst beschäftigt sind - und wenn die mit mir in Zusammenhang gebracht werden, sind sie ihren Job los. Dank einer bereits vor Monaten verabschiedeten Gesetzesänderung geht das heutzutage im Handumdrehen.

Inzwischen werden sogar unliebsame Personen rausgeschmissen, die trotz dieser Gesetzesänderung eigentlich in ihrer Eigenschaft als Gewerkschaftsführer Kündigungsschutz hätten.

Zur Person

Pusztaranger betreibt seinen Blog zur Lage in Ungarn seit 2009, nach eigenen Angaben alleine und ehrenamtlich – "als Deutscher, der lange in Ungarn gelebt hat". Er habe einen geisteswissenschaftlichen Uniabschluss und wohne in einer deutschen Großstadt. Mehr will er zu sich nicht sagen. Der Name solle etwas mit den üblichen deutschen Ungarn-Klischees zu tun haben - und sie gleichzeitig unterlaufen.

"Ungarn kommt in deutschsprachigen Medien zu kurz"

tagesschau.de: Wir haben in Budapest nach Ihnen gefragt. Die meisten kannten Ihre Webseite und Ihren Blog, wussten aber nicht, wer Sie sind und wo Sie sind.

Pusztaranger: Das soll auch so bleiben. Der Bekanntheitsgrad freut mich, aber mir geht es um die Sache, nicht um meine Person.

tagesschau.de: Warum betreiben Sie diese Internetseite, Ihren Blog? Warum in deutscher Sprache? Was möchten Sie bewegen, erreichen?

Pusztaranger: Ich will Informationslücken füllen, deutschsprachig über die Situation und die Entwicklungen in Ungarn informieren, die meiner Meinung nach in den deutschsprachigen Medien zu kurz kommen - inklusive des Antisemitismus und Antiziganismus, der von regierungsnaher Seite gerne beschönigt oder ausschließlich Jobbik zugeschrieben wird.

Dabei habe ich nicht den Anspruch, das "objektiv" und "ausgewogen" zu tun: Wenn mir etwas als wichtig auffällt, mache ich etwas dazu.

tagesschau.de: Wie ist Ihre bisherige Bilanz?

Pusztaranger: Meine Bilanz ist positiv, der Blog hat gute Zugriffszahlen - aktuell knapp 150.000 seit Juli 2009; davon 106.000 nur 2011. Und auf der Facebook-Seite ist auch immer viel los.

Ich weiß, dass deutschsprachige Journalisten sich bei mir Anregungen holen und meine Presseschau ihnen bei der Arbeit hilft. Dafür hat sich neulich einer mit einer Geldspende revanchiert. Das hat mich sehr gefreut, aber ansonsten ist der Blog komplett ehrenamtlich und unabhängig.

Das rechte Spektrum in Ungarn denkt gern, dass Kritiker der Orban-Regierung von den Sozialisten oder gar der "jüdischen Weltverschwörung" finanziert werden. Wenn so etwas kommt, sage ich gerne: Ich bin ein stolzes Mitglied der "jüdischen Weltverschwörung", aber eben komplett ehrenamtlich.

"Alles Wesentliche passiert im Internet"

tagesschau.de: Als Journalisten beobachten wir, dass in Ungarn die Protestkultur gegen den autokratischen Kurs von Ministerpräsident Orban innerhalb der Zivilgesellschaft wächst. Vieles findet im Internet statt, organisiert von jungen Leuten. Ist das auch Ihre Beobachtung?

Pusztaranger : Derzeit gibt es zum Beispiel eine Großaktion von MILLA: "Eine Million für die Pressefreiheit". Da wird am Staatsfeiertag, dem 15. März - ein hoch symbolisches Datum - auf der "Straße der freien Presse" ein alternativer Staatspräsident ernannt. Man kann sich mit kurzen Videostatements bewerben: "Was ich machen würde, wenn ich Präsident wäre". Sie schreiben sinngemäß, die Massendemos können verpuffen, was kann jeder Einzelne tun, um etwas zu verändern, und damit ein Vorbild für andere sein. Es ist ein Spiel, gut gemacht und dürfte wieder zu einer Großdemonstration werden.

Alles Wesentliche passiert im Internet - so ist für die Mobilisierung und Vernetzung der demokratischen Opposition Facebook absolut zentral. Das wird auch von Neelie Kroes, der EU-Kommissarin für die Digitale Agenda, so gesehen - aber da ist sie meiner Ansicht nach zu optimistisch. In ihrem Blog schrieb sie neulich, Ungarn wäre zu 98 Prozent mit Breitband-Internet versorgt.

tagesschau.de: Wie sieht es also in der Provinz aus?

Pusztaranger: Es gibt immer noch ein starkes Stadt-Land-Gefälle und definitiv eine Generationenkluft. Auf dem Land gibt es noch keine flächendeckende Internet-Versorgung. Dort schaut man Fernsehen oder hört das sogenannte öffentlich-rechtliche Radio - man weiß ja inzwischen, dass die manipuliert sind. Nach der Demonstration vor der Oper mit fast 100.000 Menschen kamen wir bei Freunden auf dem Dorf an, und die Nachbarn hatten absolut nichts davon mitbekommen.

Was ich hier wichtig finde zu betonen, das ist die Rolle des Internets für die dezentrale Organisation der demokratischen Opposition. Kreative Protestformen sind schön und gut, aber solange nur Budapester Intellektuelle auf die Straße gehen, wird sich nicht viel ändern. Die ungarische Solidaritätsbewegung mobilisiert aber landesweit, und bei der Demo am 2. Januar haben die Leute in der Provinz sich Busse und Fahrgemeinschaften organisiert.

Das sind sehr positive Entwicklungen, die auch aus dem Ausland unterstützt werden sollten. Denn wer sich in der ungarischen Provinz politisch engagieren will, greift auf die Strukturen zurück, die im lokalen Umfeld präsent sind. Und in der durchschnittlichen Dorfkneipe ist das Jobbik.

A. Meyer-Feist, ARD Wien, 12.01.2012 06:56 Uhr

"Sie hören nicht auf diplomatische Töne"

tagesschau.de: Ungarn ist in erheblichen Finanznöten und braucht Geld von der EU und dem IWF. Könnte man über den Hebel Kreditvergabe Druck auf Orban und seine Regierung ausüben?

Pusztaranger: Ich wüsste nicht, wie sonst. Dass sie nicht auf diplomatische Töne hören, konnte die US-Botschafterin neulich bestätigen. Die machen, was sie wollen, solange es geht. Derzeit ist noch nicht abzusehen, was passiert. Meine derzeitige Prognose ist: Orban wird keinen Kompromiss mit dem IWF schließen und auch nicht zurücktreten. Der fährt das Land lieber wirtschaftlich an die Wand und gibt den "internationalen Mächten" die Schuld, die sich "gegen Ungarn verschworen" haben.

Zu begrüßen wäre, wenn sich die vom IWF angekündigte Kompromisslosigkeit zumindest in Bezug auf EU-Kredite nicht nur auf Finanzdinge beschränken, sondern auch die Wiedereinführung grundlegender Elemente der Demokratie wie die Unabhängigkeit der Justiz und Medien- und Pressefreiheit beinhalten würde.

tagesschau.de: Was erwarten Sie von der europäischen Öffentlichkeit?

Pusztaranger: Dass Ungarn im Fokus bleibt und die demokratische Opposition im Ausland mediale und konkrete Unterstützung findet. Von der EU erwarte ich ein Grundrechteverfahren nach Artikel 7. Ich bin kein Jurist, aber es würde mich schon sehr wundern, wenn die die neuen Zusatzgesetze zur neuen ungarischen Verfassung mit EU-Recht konform wären.

Generell vermisse ich klare Worte besonders von der deutschen Regierung und klare Worte nicht nur von EU-Sozialisten und -Grünen, sondern auch von der Europäischen Volkspartei. Selbst denen sollte doch allmählich dämmern, dass ihr Wertekanon nicht deckungsgleich mit dem von Orban ist.

Das Interview führte Hilde Stadler, ARD-Studio Südosteuropa, für tagesschau.de.