Interview

Interview zu den Anschlägen in Indien "Bombay ist - zynisch gesagt - ein natürliches Ziel"

Stand: 27.11.2008 15:24 Uhr

Der Journalist Bernard Imhasly lebt seit vielen Jahren in Bombay. Im Interview mit tagesschau.de beschreibt er die Situation in der Stadt nach den Anschlägen: Leere Straßen, Ratlosigkeit, Trauer und Angst. Die Anschläge hatten seiner Ansicht nach eine neue Qualität.

tagesschau.de: Wo sind Sie gerade?

Bernard Imhasly: In meiner Wohnung in Bombay, etwa acht Kilometer entfernt von den beiden Hotels. Da die Hotels wegen der vielen Schaulustigen weiträumig abgesperrt sind, sehe ich von der Situation dort nichts. Aber ich nehme dafür die ungewöhnlich leeren Straßen vor meiner Wohnung wahr. Normalerweise herrscht hier ein reges Treiben, man sieht Fußgänger und alle möglichen Arten von Fahrzeugen. Heute sind viel weniger unterwegs als an einem Sonntag. Das liegt natürlich an den Gefühlen, die die Anschläge auslösen: Wir sind alle beherrscht von derselben Stimmung der Ratlosigkeit, der Trauer und natürlich auch der Angst, dass so etwas auch in unmittelbarer Nähe geschehen kann.

 

Zur Person

Bernard Imhasly lebt in Bombay. Dort arbeitete der Schweizer bis zu seinem Ruhestand Ende 2007 als Korrespondent für die "Neue Zürcher Zeitung". Der 62-Jährige ist mit einer Inderin verheiratet.

tagesschau.de: Wo waren Sie zum Zeitpunkt der Attentate?

Imhasly: Ich war kurz vorher noch in der Nähe der Hotels "Taj Mahal". Meine Frau und ich wollten uns einen Film anschauen. Wir waren mit dem Boot unterwegs und haben direkt am Hotel angelegt, weil das Kino in unmittelbarer Nachbarschaft dort liegt. Wir bekamen aber keine Karten mehr und fuhren dann zu Verwandten meiner Frau, einige Kilometer nördlich vom Hotel. Dort erfuhren wir per SMS von Freunden von den Attentaten.

tagesschau.de: Kennen Sie Menschen, die sich während der Anschläge in einem der Hotels aufhielten?

Imhasly: Ja, ich kenne zwei Leute, die dort waren. Sie konnten aber glücklicherweise flüchten: ein Bekannter direkt nach den Anschlägen, und eine Bekannte hat es heute morgen um vier Uhr aus dem "Taj Mahal" rausgeschafft. Sie war dort auf einem Empfang gewesen. Solche Veranstaltungen finden oft im "Taj Mahal" statt, weil es sehr große, luxuriöse Empfangsräume hat.

tagesschau.de: Könnten sich die Terroristen deshalb für diese beiden Hotels entschieden haben?

Imhasly: Zweifellos. Eine Rolle hat sicher auch gespielt, dass beide Hotels sich am Meer befinden und die Attentäter deshalb ihre Munition und ihren Sprengstoff sehr gut dorthin transportieren konnten. Aber es hat sicher auch mit den Hotels und ihrer Geschichte zu tun: Das "Taj Mahal" ist ein Wahrzeichen der Stadt, eine Ikone des reichen Bombay und des Tourismus.

tagesschau.de: Warum Bombay?

Imhasly: Es gab sicher keinen zwingenden Grund für Bombay. Das zeigt sich darin, dass praktisch alle Großstädte hier in Indien in den vergangenen Jahren Ziel von zum Teil schweren Anschlägen geworden sind. Aber Bombay ist, zynisch gesagt, fast schon ein "natürliches" Ziel, weil es die indische Wirtschaftsmacht darstellt. Es ist das finanzielle und das industrielle Zentrum des Landes und ein Touristenzentrum.

tagesschau.de: Sie haben gerade die vergleichsweise vielen Anschläge in Indien erwähnt. Hat dieser eine neue Qualität?

Imhasly: Absolut. Das Neue ist, dass die Terroristen Geiseln genommen haben, und zwar nicht spontan, sondern anscheinend lange im Vorfeld geplant: Laut Augenzeugenberichten waren in den Rucksäcken der Attentäter nicht nur Handgranaten und Sprengstoff, sondern auch Wasserflaschen. Sie hatten sich also schon vorher auf eine längere Geiselnahme eingestellt.

"Es gibt viel Bodensatz für Aggression"

tagesschau.de: Was wissen Sie über die Gruppe und ihre Motive, die hinter den Anschlägen zu stecken scheint und sich "Deccan Mudschahhedin" nennt?

Imhasly: Sie ist vorher nur einmal aufgetaucht, als vor einem Jahr in der südindischen Stadt Hyderabad direkt nach dem Freitagsgebet mehrere Bomben vor einer Moschee hochgegangen sind. Damals hat sich diese Gruppe dazu bekannt. Weil "Deccan" der Name eines Hochtableaus in Südindien ist, ist man damals davon ausgegangen, es würde sich um eine lokale Gruppe handeln. Aber das kann auch ein Täuschungsmanöver gewesen sein. Es gab damals keine Verhaftungen, die Gruppe hat keine Website und bisher keine Forderungen gestellt. Deshalb ist es schwierig zu sagen, wie sie organisiert oder vernetzt ist. Sicher gibt es eine ideologische Verbindung zu Al Kaida - ob die aber auch organisatorisch oder logistisch besteht, vermag ich noch nicht zu sagen.

tagesschau.de: Könnten Mitglieder der islamischen Minderheit hinter den Anschlägen stecken?

Imhasly: Ja. Die Muslime hier haben eine lange Geschichte von gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Hindu-Mehrheit. Das ist eine sehr lange Geschichte von Unterwerfung und Benachteiligung, die bis heute andauert. Es gibt viel Bodensatz für Aggression.

tagesschau.de: Könnte der Kaschmir-Konflikt eine Rolle spielen?

Imhasly: Die Vermutung liegt auf der Hand. Der Annäherungsprozess zwischen Indien und Pakistan auch in dieser Frage hat auch Pakistan in den vergangenen Jahren zum Opfer seiner eigenen Untergrundorganisationen gemacht, die das Land mit Anschlägen terrorisieren. Vielleicht steckt das Motiv auch hinter den jüngsten Attentaten in Indien.

Die Fragen stellte Nicole Diekmann, tagesschau.de.