Interview

Experte zu Lebensbedingungen auf dem Balkan "Letzte Chance, bevor die Festung Europa schließt"

Stand: 27.07.2015 16:32 Uhr

Es kommen weiter viele Asylbewerber vom Balkan, obwohl 90 Prozent von ihnen abgelehnt werden. "Es sind akute Notlagen, die die Menschen nach Deutschland treiben", meint Experte Michael Weichert im tagesschau.de-Interview. Und die Angst vor einem Europa, das sich abschottet.

tagesschau.de: Von den Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, kommen mehr als 40 Prozent aus den westlichen Balkan-Ländern. Was sind das für Menschen? Welche Motive haben sie?

Michael Weichert: Das sind ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen. Viele kommen vom Land, wo die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit noch stärker durchschlägt. Dort gibt es noch geringere Chancen auf eine Ausbildung, es fehlt an Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und die massenhafte Landflucht hinterlässt zum Teil verödete Landstriche. Auf der anderen Seite sind es Leute, die schon im Ausland gelebt und studiert haben, beispielsweise während des Krieges auf dem Balkan, die dann aber wieder zurückgegangen waren. Angesichts der desolaten Situation in ihren Ländern und der Zukunftsängste entscheiden sie sich, lieber wieder wegzugehen.

Eine große Rolle spielen auch die Familienmitglieder, die bereits ins westliche Ausland ausgewandert sind und sich dort ein Leben aufgebaut haben: Sie bemühen sich, weitere Familienmitglieder nachzuholen und geben ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland.

Zur Person

Michael Weichert hat Soziologie und Politik studiert und arbeitet seit vielen Jahren für die Friedrich-Ebert-Stiftung in verschiedenen Balkan-Ländern. Derzeit ist er Leiter des Projektes Regionaler Dialog Südosteuropa mit Sitz in Sarajewo.

"Roma gelten als Prügelknaben der Frustration"

tagesschau.de: Es ist immer wieder zu lesen, dass es vor allem viele Roma seien, die wegen Diskriminierung ihre Heimatländer Richtung Deutschland verlassen.

Weichert: Sicherlich sind auch viele Roma unter den Flüchtlingen. Sie sind am stärksten von wirtschaftlicher Not betroffen. Das Leben auf dem Balkan funktioniert sehr stark über familiäre Netzwerke und Freundschaften. An einen Job kommt man eigentlich nur über sie. Es herrscht ein großes Misstrauen gegenüber allen Menschen, die nicht zu diesem engsten Kreis gehören: Und je fremder sie sind, desto größer ist das Misstrauen. Deshalb leiden die Roma in besonderen Maße unter Ausgrenzung und Diskriminierung. Es gab auch immer wieder Übergriffe gegen sie. Sie sind als Prügelknaben der Frustration stigmatisiert. Es gibt zwar keine generelle Verfolgung, aber es gibt eben immer wieder solche Vorfälle, weshalb viele aus Angst lieber ihre Länder verlassen.

"Vertrauen in eine bessere Zukunft ist verschwunden"

tagesschau.de: Was hat sich auf dem Balkan verändert, dass gerade seit zwei bis drei Jahren so viele Menschen von dort weg wollen?

Weichert: Ich kenne den Balkan schon sehr lange und eigentlich war die Situation vor etwa zehn Jahren objektiv in vielen Ländern noch schwieriger als jetzt. Allerdings gab es damals die Hoffnung, dass sich durch einen möglichen EU-Beitritt etwas ändern würde. Dieses Vertrauen in eine bessere Zukunft ist heute verschwunden. Deshalb wandern auch die jungen Menschen reihenweise aus. Nicht nur weil sich die Hoffnungen in Kroatien und Slowenien, die bereits der EU angehören, nicht erfüllt haben. Sondern auch, weil auf dem Balkan spürbar ist, dass es in der EU viele Kritiker einer weiteren EU-Erweiterung gibt.

Zum anderen beobachten die Menschen nun die massiven Flüchtlingsströme, die aus anderen Regionen in die EU drängen und sie haben wohl den Eindruck: Wir müssen uns beeilen, so lange der Zaun zwischen Ungarn und Serbien noch nicht gebaut ist, so lange die Festung Europa noch nicht ganz geschlossen ist, so lange haben wir noch eine Chance, hineinzukommen.

"Auch materielle Not kann eine Art Kriegszustand sein"

tagesschau.de: Die Ablehnungsquote der Asylanträge der Balkan-Länder liegt bei etwa 90 Prozent. Und auch die jüngsten Zahlen bei den sogenannten sicheren Herkunftsstaaten Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien zeigen, dass die Menschen sich nicht wirklich abschrecken lassen. Warum?

Weichert: Viele Menschen sind in einer ganz akuten Notlage, manche haben nicht genug zu essen und wissen nicht, wie sie sich und ihre Familie über die nächsten Tage bringen sollen. Da reicht ihnen schon die Vorstellung, in Deutschland zumindest eine minimale finanzielle Unterstützung zu bekommen, auch wenn es nur für eine gewisse Zeit ist. Zum anderen glauben viele auch nicht, dass sie wieder zurückgeschickt werden. Das sind sehr irrationale und emotionale Gründe, die Hoffnung stirbt zuletzt.

tagesschau.de: Derzeit wird diskutiert, auch den Kosovo, Albanien und Montenegro zu "sicheren Herkunftsstaaten" zu erklären, um Asylanträge noch schneller ablehnen zu können. Trifft die Bezeichnung auf diese Länder zu?

Weichert: Aus der Perspektive der Betroffenen klingt das zynisch: Denn materielle Not ist für viele Menschen auch eine Art Kriegszustand. Versteht man die Bezeichnung in dem Sinne, dass das Leben der Menschen bedroht ist, dann kann man schon von sicheren Staaten sprechen. Aber die Diskussion zeigt, wie relativ unsere Argumente sind. Man müsste nochmal darüber nachdenken, ob wirtschaftliche Not nicht auch ein Grund sein müsste, um diesen Menschen in Deutschland zu helfen.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de