Interview

Syrische Flüchtlinge in der Türkei "Sie haben alles verloren"

Stand: 26.09.2014 13:04 Uhr

Hunderttausende Menschen fliehen gerade aus Syrien in die Türkei. Nesrin Semen koordiniert für die UN die Lebensmittelversorgung in den türkischen Flüchtlingslagern und erzählt tagesschau.de von den Ängsten und der Verzweiflung der Menschen.

tagesschau.de: Wie hat sich die Lage in der Türkei seit vergangenem Freitag entwickelt?

Nesrin Semen: Wir haben einen enormen Zustrom von Flüchtlingen. Vor allem im Südosten, in der Nähe von Suruc sind sehr viele Menschen aus Kobani angekommen - also hauptsächlich kurdische Flüchtlinge aus dem Norden Syriens.

Internationale Hilfsorganisationen und türkische Behörden versuchen, die Menschen so schnell wie möglich unterzubringen. Wenn sie über die Grenze kommen, werden sie erst einmal registriert und dann mit Bussen in die nächstgelegene Stadt transferiert, wo jetzt erste Unterkünfte bereitgestellt wurden. Dann werden sie teilweise zu Verwandten gebracht. Es gibt viele syrische Flüchtlinge, die Verwandte in der Türkei haben.

Aber in Zukunft werden die Flüchtlinge auch wieder in neuen Lagern untergebracht werden müssen. Um die Neuankömmlinge unterzubringen, müssen andere Flüchtlinge umverteilt werden.

Zur Person

Nesrin Semen arbeitet für das UN World Food Programme in den Flüchtlingslagern im Südosten der Türkei an der Grenze zu Syrien. Dort koordiniert sie im Wesentlichen die Ernährungshilfe (Notrationen, Gutscheine) für die Flüchtlinge.

tagesschau.de: Waren Sie darauf vorbereitet?

Semen: Das ist bis jetzt der größte Flüchtlingszustrom im Rahmen dieser Operation. Dieses Ausmaß hat man nicht erwartet, und dementsprechend schwierig ist es jetzt. Aber alle tun hier ihr Bestes, um der Lage doch Herr werden zu können.

tagesschau.de: Wer hilft konkret vor Ort?

Semen: Zum größten Teil sind das tatsächlich die türkische Bevölkerung und die türkischen Behörden, die hier wirklich Enormes leisten, um die Flüchtlinge aufzunehmen. Auch der türkische Halbmond ist mit einer mobilen Küche vor Ort, wo jetzt pro Tag drei Mahlzeiten zubereitet und verteilt werden.

tagesschau.de: Wie sieht es vor Ort aus?

Semen: Es herrscht große Verzweiflung. Gerade die Menschen, die neu ankommen, sind in besonders schlechtem Zustand, weil sie sehr lange unterwegs waren. Sie kommen ja nicht nur aus der näher gelegenen Stadt, sondern auch aus dem Umland. Das heißt, sie mussten lange Wege zurücklegen, teilweise auch ganz laufen, um hierher in die Türkei zu kommen.

Die Menschen mussten in relativ kurzer Zeit alles, was sie hatten zurücklassen. Und keiner weiß so genau, was jetzt auf sie zukommt und wie lange die Situation andauert. Die meisten hoffen natürlich, möglichst schnell nach Syrien in ihre Dörfer und Häuser zurückkehren zu können.

Und selbst die Leute, die hier bei Verwandten untergekommen sind, fühlen sich jetzt hoffnungslos, weil sie eben nicht wissen, wie es weiter geht und sagen: "Wir können ja jetzt nicht ewig bei unseren Verwandten bleiben." 

tagesschau.de: Ist es tatsächlich so, dass einige Frauen und Männer ihre Familien in den Flüchtlingslagern abliefern und zurückgehen, um gegen den IS zu kämpfen?

Semen: Ja, viele Männer machen das. Bei uns kommen vor allem Frauen und kleine Kinder an, deren Männer und Väter tatsächlich in Syrien zurückgeblieben sind. Und zwar nicht nur, um zu kämpfen, sondern auch, um Hab und Gut zu schützen. Sie wollen ihre Häuser, Autos und Tiere nicht einfach so zurücklassen.

tagesschau.de: Was wird am dringendsten gebraucht?

Semen: Nahrungsmittel, Kleidung, Windeln, Babynahrung, Decken und Betten - solche Dinge sind jetzt gerade am notwendigsten. Für uns als UN sind gerade finanzielle Mittel ein großes Problem. Wir brauchen ganz dringend Spendengelder, um unser Programm hier weiter finanzieren zu können.

tagesschau.de: Welche Probleme gibt es in den Lagern?

Semen: Vor allem die Ungewissheit: Wie lange geht das hier so weiter, wie lange müssen wir in dieser Situation bleiben? Und natürlich versuchen wir als World Food Programme, die Menschen zu unterstützen, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Es reicht, um sich in einer Notsituation Grundnahrungsmittel zu kaufen, aber natürlich würden die Menschen gerne mehr zur Verfügung haben. Die Flüchtlinge haben keine Möglichkeit, sich selbst ihr Einkommen zu verdienen.

Und auch andere Dinge, wie Kleidung - die einem normalerweise so gar nicht in den Sinn kommen - die fehlen besonders in solchen Situationen. Gerade diesen Menschen, die sowieso schon so viel durchgemacht haben. Sie fühlen sich teilweise verlassen.

tagesschau.de: Was erzählen die Flüchtlinge, die in der Türkei ankommen?

Semen: Sie erzählen uns von dem, was sie erlebt oder auch gehört haben. Wenn sie Kämpfe gesehen haben, warum sie geflohen sind, von den Ängsten, die sie hatten. Zum großen Teil haben die Menschen ihre Häuser verloren, teilweise wurden sie vom Bombenhagel vertrieben. Das sind schon sehr dramatische Geschichten, die wir hören.

Und sie erzählen, dass sie ihre Heimat vermissen und am liebsten sofort zurückgehen wollen, mit ihren Kindern. Und auch die erzählen - zum Beispiel, dass sie gerne wieder zur Schule gehen möchten.

Es sind ganz verschiedene Schicksale, aber der Tenor ist eigentlich, dass die Menschen zurück möchten und sehr geschockt sind von dem, was sie erlebt haben.

Das Interview führte Katharina Knocke für tagesschau.de