Interview

Interview zum Massaker auf dem Tiananmen-Platz "Die Blutschuld muss beglichen werden"

Stand: 04.06.2012 08:35 Uhr

Auch nach 23 Jahren ist das Tiananmen-Massaker in China ein Tabu. Die Opferfamilien "Mütter des Tiananmen" haben jetzt in einem offenen Brief beklagt, dass die Machthaber eine Aufklärung verweigerten. Sprecherin Ding fordert im ARD-Interview, dass endlich jemand Verantwortung übernimmt.

ARD-Studio Peking: Die Mütter des Tiananmen haben sich kurz vor dem 23. Jahrestag der blutigen Niederschlagung des Aufstands vom 4. Juni 1989 in einem offenen Brief an die Regierung gewandt. Was sind ihre zentralen Forderungen?

Ding Zilin: Wir fordern erstens: Die Wahrheit über die Vorgänge am 4. Juni 1989 muss bekannt gemacht werden. Zweitens: Die Opferfamilien müssen entschädigt werden. Drittens: Diejenigen, die den Einsatz des Militärs befohlen haben, müssen dafür die Verantwortung übernehmen. Das sind die gleichen Forderungen, die wir auch schon zum zehnten Jahrestag erhoben haben.

Schon damals sagten wir, dass die regierende kommunistische Partei die Aufarbeitung des 4. Juni 1989 als Chance begreifen muss, um politische Reformen einzuleiten, China friedlich weiterzuentwickeln und soziale Konflikte zu lösen.

Unsere Forderungen sind auch 23 Jahre nach dem schrecklichen Ereignis nicht überholt, ganz im Gegenteil. Die sozialen Konflikte in China haben sich verschärft, die Kluft zwischen Arm und Reich ist größer geworden, die Korruption wird immer schlimmer.

Ding Zilin

Ding Zilin ist Sprecherin der Mütter des Tiananmen. Der Sohn der heute 76-Jährigen wurde am Vorabend des 4. Juni 1989 erschossen. Ding lebt in Peking und wird von der Staatssicherheit überwacht.

"Die Regierung hat versagt"

ARD: Zehn Jahre lang war die Regierung unter Staatspräsident Hu Jintao und Ministerpräsident Wen Jiabao im Amt. Wie beurteilen Sie diese Regierungszeit?

Ding: Unser Urteil, das Urteil der Mütter des Tiananmen über die Regierungszeit fällt negativ aus. Zehn Jahre lang hatte die Regierung Zeit, große Veränderungen zu erreichen. Wenn sie die Gelegenheit ergriffen, Anregungen aus der Gesellschaft angenommen und mit politischen Reformen begonnen hätte, dann hätte sie viel erreichen können. Sie hätte die Ungerechtigkeiten des Juni 1989 korrigieren können. Aber das haben sie nicht getan. Wir glauben, sie haben versagt.

ARD: Sind Hu Jintao und Wen Jiabao als die obersten Führer der Regierung dafür besonders verantwortlich?

"Das ist eine feudale Klasse"

Ding: In den zehn Jahren seiner Amtszeit hat Hu Jintao gezeigt, wie rigide er denkt und zu welch brutalen Mitteln er greift. Seine Ideologie ist maoistisch, seine Gedanken sind starr und steif.

Und Wen Jiabao forderte zwar mehrfach politische Reformen. Von den neun Mitgliedern im Politbüro ist er der einzige, der über die Notwendigkeit von Reformen spricht. Angeblich soll er auch im Politbüro mehrfach gesagt haben, dass man den 4. Juni 1989 aufarbeiten und neu bewerten muss.

Aber wir glauben, dass man sich nicht auf ihn verlassen kann, selbst wenn er das, was er sagt, ehrlich meint. Warum? Weil die gegenwärtigen chinesischen Machthaber eine Interessengruppe von Adeligen sind.

Das ist eine feudale Klasse, die entweder gemeinsam weiter an der Macht bleibt oder gemeinsam untergeht. Und keiner von ihnen hat die Chance, etwas wirklich zu verändern. Das ist unmöglich. Daher muss zunächst das politische System an sich reformiert werden, sonst wird der 4. Juni 1989 nie aufgeklärt werden können.

"Wir wurden einfach ignoriert"

ARD: Wen Jiabao hat immerhin in mehreren Reden von der Notwendigkeit politischer Reformen gesprochen. Ist das nicht doch ein Schritt in die richtige Richtung?

Ding: Wir wissen nahezu nichts über unsere politischen Führer, wer sie sind und was sie denken. Wir kennen sie nur über ihre wenigen öffentlichen Reden. Und selbst mit diesen Reden, in denen Wen Jiabao politische Reformen forderte, hat er uns tief in unseren Herzen verletzt.

Er sagte, dass politische Reformen ein "Erwachen" in der Bevölkerung erfordern. Aber als vor 23 Jahren überall in den Straßen Pekings und in ganz China Menschen auf die Straße gingen, das war doch "Erwachen". Die Menschen forderten mehr Demokratie, mehr Menschenrechte und die Bekämpfung der Korruption.

Damals erwachten Millionen von Menschen und was ist daraus geworden? Es war die regierende Partei, die bewaffnetes Militär einsetzte und das zivile Erwachen, den Enthusiasmus der Menschen, ihre Ideen und ihre Kreativität niederschlagen ließ. Was Wen Jiabao jetzt angeblich fordert, all das wurde damals mit Panzern und Maschinengewehren zerschlagen. Dabei wurden Menschen getötet und Leben zerstört. Was übrig blieb sind unsere endlose Trauer, Leid und Schmerz.

Und Wen Jiabao, der heute ein Führer ist und damals ein Führer war, hat sich in 23 Jahren nicht um uns und unsere Forderungen geschert. Wir wurden einfach ignoriert. Ausgerechnet Wen Jiabao fordert jetzt ein geistiges "Erwachen". Das reißt nur unsere Wunden erneut auf.

Die gegenwärtige Regierung hat die Macht von ihren Vorgängern übernommen und damit auch die Blutschuld. Diese Schuld muss endlich beglichen werden. Endlich muss jemand Verantwortung übernehmen, denn wir Bürger werden nie vergessen.

Wir können vergeben. Es ist niemals zu spät seine Fehler zu korrigieren. Dies fordern wir seit 23 Jahren und seit 23 Jahren warten wir darauf.

"Niemand darf seine Schuld auf andere laden"

ARD: Der damalige Bürgermeister Pekings, Chen Xitong, behauptet nun in einem Buch, er trage keine Verantwortung für den Einsatz des Militärs. Tote hätten vermieden werden können und das Geschehene täte ihm leid. Glauben Sie ihm?

Ding: Chen Xitong behauptet, dass er nicht der Verantwortliche in dieser Sache war, sondern dass Deng Xiaoping die Entscheidung zur Metzelei am 4. Juni getroffen habe. Er als Beteiligter und Helfershelfer bestätigt damit etwas, was wir immer gesagt haben: Es war Deng Xiaopings Entscheidung. Und der andere Schurke der Geschichte ist Li Peng. Er ist mit für das Massaker am 4. Juni verantwortlich. Er war nicht die Nummer eins unter den Verbrechern, aber die Nummer zwei.

Chen sagt, Tote hätten vermieden werden können. Da hat er Recht. Aber am Ende hat es Tote gegeben. Am Ende ist Blut geflossen. Er behauptet, das tue ihm leid. Ich glaube, er hat kein Recht, das zu sagen. Er versucht sich damit nur selbst rein zu waschen. Er war damals Bürgermeister von Peking und deswegen ist er auch mitverantwortlich für das was geschah. Niemand darf seine eigene Schuld auf andere laden, und jeder ist für seine Verbrechen selbst verantwortlich.

"Alle sollten aufstehen und sprechen"

ARD: Ist das, was der Ex-Bürgermeister von Peking zu sagen hat, also nur eine Lüge mehr in der lange Reihe von Lügen aus offiziellem Munde über die Ereignisse des 4. Juni?

Selbst wenn vieles, was er in dem Buch behauptet, nicht die Wahrheit ist. Es ist zumindest ein Anfang. Ein Anfang, endlich über den 4. Juni zu sprechen. Alle sollten aufstehen und darüber sprechen, was damals geschah: Diejenigen, die damals an der Macht waren, hohe oder niedrige Führer, diejenigen, die teilgenommen haben und diejenigen, die nur zugesehen haben.

Alle sollten aufstehen und sprechen. Nur so kann die Wahrheit Stück für Stück ans Licht kommen. Wenn all die Lügen beseitigt sind, kann die historische Wahrheit bekannt werden.

"Der internationale Druck nimmt immer mehr ab"

ARD: Was bedeutet das für Sie und die weitere Arbeit der Mütter des Tiananmen?

Seit vielen Jahren glauben wir Opferfamilien daran, dass nur die Wahrheit uns weiter bringen kann. Wir alleine sind nicht stark genug, um das zu erreichen. Unmittelbar nach dem 4. Juni 1989 war der internationale Druck groß. Heute nach 23 Jahren nimmt der Druck immer mehr ab.

Wenn der Druck abnimmt, dann nimmt das Vertuschen zu und es wird immer leichter, Lügen zu verbreiten. Dagegen können wir allein kaum etwas ausrichten. Wir brauchen mehr Menschen, die auf unserer Seite kämpfen. Der internationale Druck auf die Regierung muss wieder zunehmen. Ich jedenfalls werde mich bis zu meinem Tod immer weiter an die Regierung wenden und auf den Tag warten, an dem meine Forderungen erfüllt werden.

Das Interview führte Christine Adelhardt, ARD-Studio Peking.

Das Interview führte Christine Adelhardt, NDR