Daniel Cohn-Bendit
Interview

Deutsch-französische Freundschaft "Deutsche sind Weltmeister im Bremsen"

Stand: 22.01.2019 03:21 Uhr

Bei der Zusammenarbeit in Europa gebe es noch Luft nach oben, sagt Daniel Cohn-Bendit im tagesschau.de-Interview. Dies liege vor allem an Deutschland.

tagesschau.de: Heute unterzeichnen Angela Merkel und Emmanuel Macron in Aachen einen neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Braucht es den?

Daniel Cohn-Bendit: Ja. Der letzte Vertrag, der Élysée-Vertrag, ist ja viele Jahrzehnte her. Er wurde noch von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer unterzeichnet. Und deshalb finde ich es richtig, dass Deutschland und Frankreich ihre Beziehung nun weiter definieren.

Die Welt von heute ist nicht mehr die Welt von gestern. Und man braucht so einen Vertrag umso mehr, weil Deutschland und Frankreich gemeinsam immer größere Verantwortung in Europa tragen.

Zur Person

Daniel Cohn-Bendit ist deutsch-französischer Publizist und Aktivist und war zwischen 1994 und 2014 Mitglied der Grünen im Europaparlament. Er gilt als Vertrauter von Emmanuel Macron.

tagesschau.de: Inwiefern reicht der alte Vertrag dafür nicht mehr aus?

Cohn-Bendit: Im alten Vertrag haben de Gaulle und Adenauer beispielsweise einen großen Bogen um die NATO gemacht. Es gibt darin überhaupt kein Nachdenken über eine gemeinsame Verteidigung. Aber wenn wir uns die heutigen Entwicklungen ansehen in den Vereinigten Staaten, Russland, China - da wird sich in Zukunft erweisen, dass wir eine ganz andere europäische Sicherheitsstrategie brauchen. Und wenn die Briten nun Europa verlassen, dann müssen Frankreich und Deutschland gemeinsam die Voraussetzungen schaffen, dass sie in Europa diese Sicherheitsstrategie nicht nur entwickeln, sondern auch sichern.

tagesschau.de: Was versprechen Sie sich konkret von dem neuen Vertrag?

Cohn-Bendit: Zunächst mal zeigt er, dass der gute Wille da ist, aber es reicht natürlich nicht, was drinsteht. Macron wollte ja weitergehen, aber Deutschland und die Bundeskanzlerin sind ja Weltmeister im Bremsen.

Ich weiß, das was ich mir vorstelle, ist sehr schwierig. Aber ich finde, dass Deutschland und Frankreich viel stärker integriert in der EU und auch bei den Vereinten Nationen handeln und intervenieren sollten. Frankreich müsste sich mit Deutschland den Sitz der Franzosen im Sicherheitsrat quasi teilen. Das heißt aber auch, gemeinsame Verantwortung tragen. Auch im Hinblick auf Initiativen zur Regulierung der Globalisierung zum Beispiel.

"Zerrieben zwischen Russland, China, USA"

tagesschau.de: Wo sehen Sie positive Impulse aus dem neuen Vertrag?

Cohn-Bendit: Gut ist, dass er überhaupt existiert und dass Deutsche und Franzosen sich in die Hand versprechen, weiter gemeinsame Initiativen ergreifen zu wollen. Der Wunsch gemeinsam zu handeln, ist das wichtigste.

tagesschau.de: Was genau würde sich Macron wünschen, was über die Vereinbarungen hinausgeht?

Cohn-Bendit: Macron hat eine ganz klare politische Position, was Europa betrifft und damit auch das Verhältnis zu Deutschland. Er ist der festen Überzeugung, dass die Nationalstaaten - auch wenn sie groß sind wie Deutschland oder Frankreich - die Probleme allein nicht lösen können. Das heißt, für Macron ist die französische Souveränität davon abhängig, wie sich die europäische Souveränität entwickelt. Und deswegen braucht er Deutschland, um Europa souveräner und handlungsfähiger zu machen.

Das ist für ihn eine existenzielle Frage. Für Frankreich und - in seiner Analyse - auch für Deutschland. Nationale Interessen verteidigt man heutzutage durch Europa. Sonst werden wir zerrieben zwischen Russland, China den Vereinigten Staaten.

Deutsch-französische Beziehungen

Am 56. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags unterschreiben Angela Merkel und Emmanuel Macron einen neuen Freundschaftsvertrag "über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration".
Der Vertrag sieht unter anderem vor, dass deutsch-französische Grenzgebiete ermächtigt werden, enger zusammenzuarbeiten - etwa bei der Gesundheitsversorgung oder im Bereich der Elektromobilität. In Frankreich schiebt der Zentralismus dem bisher häufig einen Riegel vor. Geplant ist auch ein "deutsch-französischer Wirtschaftsraum". Deutsche Unternehmen klagen über viele bürokratische Hürden im Nachbarland. Diese sollen beseitigt werden, indem EU-Vorschriften künftig auf gleiche Weise umgesetzt werden.
Zudem soll es einen "Bürgerfonds" geben, der Bürgerinitiativen und Städtepartnerschaften fördern soll. Wie viel Geld der Fördertopf enthalten soll, steht allerdings noch nicht fest. Auch sollen Schul- und Bildungsabschlüsse leichter anerkannt werden und wieder mehr Deutsche und Franzosen für die Nachbarsprache begeistert werden.

"Deutschland macht einen schweren Fehler"

tagesschau.de: Und wie erklären Sie sich, dass Merkel bremst?

Cohn-Bendit: Merkel müsste die Quadratur des Kreises schaffen, weil es zwischen CDU, CSU und SPD keine Einigkeit in europäischen Fragen gibt. Ein Beispiel ist der Vorschlag von Olaf Scholz für eine europäische Arbeitslosenversicherung. Sofort sagen CDU und CSU nein und schon nimmt Merkel das zurück. Merkel kann überhaupt keine deutsche Initiative auf europäischer Ebene starten, beispielsweise zur Lösung der Migrations- und Flüchtlingsfrage, weil sie keine Einigkeit zwischen CDU, CSU und SPD hat.

tagesschau.de: Verpasst Deutschland da wichtige Chancen?

Cohn-Bendit: Deutschland macht einen schweren Fehler, weil wir in größere Turbulenzen kommen werden, wenn sich die ökonomische Situation verschlechtert. Es ist ein Fehler, dass Merkel nicht auf Frankreich zugegangen ist beim Thema Eurohaushalt oder europäischer Finanzminister. Das wäre eine Chance gewesen, die ökonomische Handlungsfähigkeit Europas zu sichern und die Globalisierung zu regulieren.

"Zivilisatorische Leistung"

tagesschau.de: Durch dieses Zögern Deutschlands gab es ja Verstimmungen. Wie bewerten Sie den aktuellen Zustand der deutsch-französischen Freundschaft?

Cohn-Bendit: Die deutsch-französische Freundschaft ist eine Selbstverständlichkeit und wird von niemandem infrage gestellt - außer vielleicht von ein paar Spinnern ganz rechts oder links. Es ist eine zivilisatorische Leistung, die diese beiden Länder seit den 1950er-Jahren geschaffen haben, das steht außer Frage.

Aber es müsste noch besser und dynamischer werden. Man muss objektive Probleme überwinden. Und da sehe ich momentan viele Blockaden, gerade in der deutschen Regierungskonstellation.

Europa muss eine eigenständige Sicherheitsstrategie, eine eigenständige Einwanderungsstrategie und eine gemeinsame Strategie zur Regulierung der Globalisierung haben. Und Voraussetzung dafür ist, dass Frankreich und Deutschland sich einigen. Ohne die deutsch- französische Initiative wird es in Europa nicht weitergehen.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 22. Januar 2019 um 04:43 Uhr.