Interview

Interview mit dem Befreiungstheologen Betto "Die Kirche muss sich ändern"

Stand: 27.07.2013 11:12 Uhr

Jahrzehntelang wurden die Befreiungstheologen vom Vatikan gemaßregelt. Mit dem neuen Papst erhalten sie wieder Aufwind. "Es gibt viele Übereinstimmungen mit Franziskus", meint Frei Betto, ein führender Vertreter der brasilianischen Befreiungstheologie, im Interview mit ARD-Korrespondent Tilmann Kleinjung.

tagesschau.de: Die Brasilianer sind begeistert von diesem Papst aus Argentinien. Sie auch?

Frei Betto: Ich auch! Sehr begeistert! Zuerst einmal, weil er sich Franziskus genannt hat. Das ist ein symbolischer Name. Franz von Assisi hat ja den Kapitalismus kritisiert. Er hat sich für die Armen entschieden und war ein Verteidiger der Umwelt. Heute würde man sagen: Er war die große ökologische Figur der Kirche. Und er hat sich bereit erklärt, die Kirche zu reformieren. Außerdem bin ich glücklich über Papst Franziskus, weil er ebenfalls eine Reform der Kirche und eine Reform des Papstamtes begonnen hat. Seine Amtsführung ist doch ganz anders als die von Johannes Paul II. oder Benedikt XVI.

tagesschau.de: Franziskus hat beim Weltjugendtag die katholische Jugend dazu angestiftet, in der Kirche für Unruhe zu sorgen. Glauben Sie, dass unter diesem Papst möglich ist, was lange unmöglich schien: ein Ende des Zölibats, mehr Rechte für Laien, innerkirchliche Reformen?

Betto: In 2000 Jahren ist in der Kirche viel verändert worden. Ich selbst habe noch erlebt, dass die Priester mit dem Rücken zu den Gläubigen die Messe zelebrierten. Und ich erwarte weitere Veränderungen. Denn entweder ändert sich die Kirche oder sie wird keine Zukunft mehr haben. Die Jugend von heute akzeptiert nicht, dass eine Institution ihnen den Gebrauch von Kondomen verbietet, dass man keinen Sex vor der Ehe haben darf und dass Sexualität in der Ehe nur der Fortpflanzung dienen darf.

Zur Person

In Brasilien zählt der in Belo Horizonte unter dem bürgerlichen Namen Carlos Alberto Libânio Christo geborene Dominikaner Frei (Bruder) Betto zu den einflussreichsten Befreiungstheologen. Bereits in frühen Jahren engagierte sich der heute 68-Jährige in der katholischen Sozialarbeit und galt als militanter Kämpfer gegen die 1964 installierte Militärdiktatur. Anfang der 70er-Jahre verbrachte er zwei Jahre in den Kerkern des Regimes. Später fungierte er als Verbindungsmann zwischen der Regierung Kubas unter Fidel Castro und der katholischen Kirche. 2003 wurde er vom damaligen Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva zum Beauftragten für das Regierungsprogramm "Fome Zero" (Null Hunger) berufen. Nach Meinungsverschiedenheiten über die Fortführung der staatlichen Sozialprogramme schied Betto 2004 aus der Regierung aus. Der Autor Dutzender Bücher über Religion und Sozialpolitik wurde in diesem Jahr von der UNESCO für seinen Einsatz für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit ausgezeichnet.

tagesschau.de: Junge Menschen sind in Rio de Janeiro vor wenigen Wochen noch zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen, um für eine bessere Zukunft zu demonstrieren. Was ist das für ein Land, was ist das für eine Stadt, die Papst Franziskus in diesen Tagen besucht?

Betto: Dem Weltjugendtag ging der nationale Jugendprotesttag voraus. Man protestierte für mehr Bürgerrechte und Demokratie. Der Papst hat diese Forderung der jungen Brasilianer unterstützt. Die Regierung ist in einer schwierigen Situation. Sie verliert an Zustimmung, weil sie sich von ihrer sozialen Basis entfernt. Jetzt müssen die Regierenden den Dialog mit den sozialen Bewegungen suchen, vor allem mit den Jugendlichen.

Der einzige Bischof, der mit den Basisgemeinden Messe feierte

tagesschau.de: 2007 fand eine Konferenz der lateinamerikanischen Bischöfe im brasilianischen Aparecida statt. Deren Abschlussdokument zitiert der Papst bei praktisch jeder Gelegenheit. Welche Rolle hat Franziskus damals gespielt?

Betto: Er leitete die Schlussredaktion des Dokuments von Aparecida. Dieses Dokument unterstrich die Bedeutung der Basisgemeinden, denen man ja vorwarf, der Befreiungstheologie anzugehören. Er war der einzige Bischof, der damals mit den Basisgemeinden Messe feierte. Jetzt erwarte ich, dass er dem Dokument treu bleibt, an dem er ja mitgeschrieben hat und das er als Redaktionsleiter unterschrieben hat.

tagesschau.de: Franziskus lässt sich im Kleinwagen durch Rio chauffieren. Er besucht eine Favela und weiht eine Klinik für Drogenabhängige ein. Das sind starke Gesten. Wofür stehen diese Gesten?

Betto: Der Reiseplan war ja noch für Benedikt XVI. erarbeitet worden. Und es war der ausdrückliche Wunsch von Franziskus, mit Drogenabhängigen in Kontakt zu kommen, eine Favela zu besuchen und Häftlinge zu treffen. Schade finde ich nur, dass er zwar eine Basisgemeinde besucht hat, nämlich die in der Favela. Dabei ließ er aber eine gute Gelegenheit verstreiche, nämlich deren Arbeit zu würdigen. Das wäre eine große Ermutigung für die Kirche Lateinamerikas gewesen.

"Franziskus ist offen und progressiv"

tagesschau.de: Ist Papst Franziskus ein Befreiungstheologe?

Betto: Nein, aber er ist ein Lateinamerikaner, der die Ungleichheiten kennt und das Elend. Er ist offen und progressiv. Ich würde nicht sagen, dass er ein Befreiungstheologe ist. Aber zwischen ihm und den Befreiungstheologen gibt es viele Übereinstimmungen.

Stichwort: Befreiungstheologie

Die Theologie der Befreiung ist im Lateinamerika der 60er- und 70er-Jahre als Reaktion auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft entstanden. Wesentliches Merkmal sind "Basisgemeinden", die die Kirchenhierarchie infrage stellen und die Anliegen der Armen in den Mittelpunkt stellen. Viele Vertreter der Befreiungstheologie mussten ihren radikalen theologischen Kurs mit dem Leben bezahlen. Erzbischof Oscar Romero von San Salvador wurde 1980 ermordet. Andere Theologen wurden vom Vatikan gemaßregelt und mit einem Lehrverbot belegt, darunter auch der Brasilianer Leonardo Boff. Rom kritisierte immer die Nähe der Befreiungstheologen zu marxistischen Ideologien. Die lateinamerikanische Bischofskonferenz hingegen bestätigte 2007 die "vorrangige Option der Kirche für die Armen".

tagesschau.de: Sie und Ihre Kollegen wie Leonardo Boff sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder von Rom gemaßregelt worden. Hat Sie das frustriert?

Betto: Nein, das ist ja normal. Jesus und alle Propheten haben gelitten. Wir haben das mit viel Ruhe und viel Glauben toleriert. Wir haben niemals Brüche innerhalb der Kirche provoziert. Alle Spaltungen, Häresien und Brüche seit dem 20. Jahrhundert wurden von den Rechten verursacht, von den Konservativen und Traditionalisten.

tagesschau.de: Was bedeutet der Wechsel im Papstamt von Joseph Ratzinger zu Jorge Mario Bergoglio für Sie persönlich?

Betto: Für mich ist das der Wechsel von der Vor-Moderne zur Post-Moderne. Jetzt haben wir eine Kirche, die der Welt des 21. Jahrhunderts näher steht, also dem Zeitalter, das gerade beginnt.

Das Interview führte Tilmann Kleinjung, ARD-Hörfunkstudio Rom, zzt. Rio de Janeiro

Das Interview führte Tilmann Kleinjung, BR