Männer in Georgiens Hauptstadt Tiflis recken ihre Fäuste gegen Aktivistinnen und Unterstützer der LGBTQ+-Bewegung.

Georgien Mit Gewalt gegen den "Marsch der Würde"

Stand: 05.07.2021 17:16 Uhr

Für Toleranz und Würde wollten Aktivistinnen und Unterstützer in Georgiens Hauptstadt Tiflis auf die Straße gehen. Doch ein gewalttätiger Mob verhinderte es. Die Orthodoxe Kirche und die Regierung trugen dazu bei.

"Pogromstimmung", "Menschenjagd" - zahlreiche Kommentare und Bilder in den sozialen Medien beschreiben heftige Ausschreitungen im Zentrum von Georgiens Hauptstadt Tiflis im Verlaufe des Tages. Der erfahrene Journalist Dato Parulava berichtete von beispielloser Gewalt gegen Reporter und Aktivisten, begangen von Horden zumeist dunkel gekleideter Männer und Frauen, unter ihnen Priester der Orthodoxen Kirche Georgiens.

Mit Fäusten und Tritten verletzten sie mehr als 15 Journalisten und zerrissen deren Kleidung. Es gab eine Festnahme wegen eines Messerangriffs auf einen Touristen, der einen Ohrring trug und deshalb für schwul gehalten wurde. Eine Gruppe stürmte das Büro mehrerer NGOs und drohte, das ganze Haus in Brand zu stecken.

Seit Tagen war die Lage angespannt, am Morgen eskalierte sie. Auslöser war die "Tbilisi Pride" - eine jährlich stattfindende Woche mit Veranstaltungen im Zeichen der Toleranz. Später am Tage hätte der "Marsch der Würde" stattfinden sollen. Doch am Nachmittag sagten ihn die Veranstalter ab. Man wolle nicht das Leben von Menschen riskieren. Die Polizei zeigte sich nicht in der Lage, die Versammlungsfreiheit durchzusetzen und für den Schutz von Journalisten und Aktivistinnen zu sorgen.

Eine solche Gewalt hat es aus diesem Anlass seit 2013 nicht mehr gegeben. Damals gingen Bilder von Männern mit wutverzerrten Gesichtern um die Welt. Zum Symbol wurde ein Priester, der mit drohender Geste einen Holzstuhl in die Höhe reckte.

Kirche und Premier heizten Stimmung an

Auch in diesem Jahr spornten radikale Vertreter der Orthodoxen Kirche ultrakonservative, nationalistische und rechtsextreme Gruppierungen mit Parolen wie "Schwule sind Terroristen" an. Patriarch Ilja II. rief zwar zu friedlichem Protest und Gebeten auf, er sprach aber auch von einem "pervertiertem Lebensstil" und von "LGBTQ+-Propaganda-Aktivitäten".

Die Orthodoxe Kirche ist, insbesondere wegen des Patriarchen, die angesehenste Institution im Land. Doch der längst begonnene Machtkampf um seine Nachfolge schadet ihr, ebenso wie aktuell ein Skandal über Misshandlungen in einem Kinderheim in Obhut der Kirche. Das Beschwören einer Gefahr eines "verdorbenen Gayropa", gegen das die traditionellen Werte hochgehalten werden müssten, lenkt davon ab.

Hinzu kommt, dass sich Premierminister Irakli Gharibaschwili zuletzt noch einmal am Morgen gegen die "Tbilisi Pride" aussprach, die er als "unangemessen" bezeichnete. Indem er unterstellte, der umstrittene Ex-Präsident Michail Saakaschwili und dessen Partei "Vereinte Nationale Bewegung" stünden hinter den Organisatoren und wollten Unruhe anzetteln, heizte er in den Augen vieler Oppositioneller und Aktivistinnen die Lage noch an.

EU bezieht klar Stellung

Auch die Regierungspartei "Georgischer Traum" steht unter Druck angesichts einer schwachen wirtschaftlichen Lage infolge der Pandemie, die den für das Land so wichtigen Tourismus 2020 zum Erliegen brachte. Außerdem steht die Regierungspartei in ihrer dritten Amtszeit unter dem Vorwurf, der Demokratie zu schaden und den Weg Georgiens in Richtung EU und NATO aufzuhalten.

Die Parlamentswahl im Herbst 2020 wurde von Manipulationsvorwürfen begleitet. Mit großer Mühe gelang es der EU im Frühjahr, zwischen dem "Georgischen Traum" und der Opposition einen Kompromiss auszuhandeln. Am Ende reiste sogar Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, nach Tiflis, um die zerstrittene politische Elite auf eine Einigung einzuschwören.

Auch rund um die "Tbilisi Pride" bezogen internationale Diplomaten Stellung. Am Samstag zeigten sich mehrere Botschafter bei einer Filmvorführung. Am Nachmittag verurteilten 20 internationale Vertretungen die Gewalt, darunter die deutsche Botschaft. Sie kritisierten das Versagen der Regierung und der religiösen Vertreter, die Gewalt zu stoppen, und forderten Ermittlungen gegen die Gewalttäter.

Aufgrund ihrer klaren Haltung werden auch die EU und andere internationale Vertreter angegriffen. So bezog die Orthodoxe Kirche die diplomatischen Vertreter in ihre Vorwürfe ein. Am Vormittag verschwand die Europa-Flagge vor dem Parlament, die dort seit Jahren neben der georgischen Flagge wehte.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 05. Juli 2021 um 21:00 Uhr in den Nachrichten.