Interview

Europäische Flüchtlingspolitik Nicht ohne die Türkei

Stand: 06.03.2016 05:55 Uhr

Vor dem EU-Gipfel mit der Türkei hat Kanzlerin Merkel noch einmal ihre Position bekräftigt. Der Experte Gerald Knaus hält ihre Position für durchdacht, benennt aber gleichwohl Fehler. Unumgänglich sei eine Kooperation mit der Türkei. Eine wichtige Aufgabe sieht er für die NATO in der Ägäis.

tagesschau.de: Kanzlerin Merkel hält an ihrer Flüchtlingspolitik fest, auch wenn sie in Deutschland und in der EU deswegen unter Druck steht. Ist Merkel Ihrer Meinung nach auf dem richtigen Weg oder sollte sie umsteuern?

Gerald Knaus: Im Gegensatz zu den anderen Politikern in Europa hat Merkel die Alternativen zu ihrer Politik gut durchdacht und ist zu dem richtigen Schluss gekommen, dass alle anderen Maßnahmen katastrophale Nebenwirkungen hätten und auf Illusionen aufbauen - etwa die Idee, man könne durch einen Zaun auf dem südlichen Balkan Griechenland absperren und die Flüchtlinge am Weiterkommen hindern. Das wird nie funktionieren: Schon nach wenigen Tagen sehen wir dramatische Bilder, ohne dass die Flüchtlinge sich davon abhalten lassen würden, trotzdem zu kommen. Die Nebenwirkungen für die Stabilität sowohl des Balkans als auch für Griechenland könnten katastrophal sein. 

Gerald Knaus
Zur Person

Gerald Knaus leitet die gemeinnützige Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI) und gilt als einer der Architekten des EU-Türkei-Abkommens. Der Österreicher ist in der Flüchtlingspolitik und im Umgang mit der Türkei ein gefragter Experte. Er studierte in Oxford, Brüssel und Bologna und war unter anderem als Analyst für die UN im Kosovo aktiv.

Eine Alternative besteht nur in einer Zusammenarbeit der Türkei und Griechenlands in der Ägäis. Daran arbeitet Merkel seit Oktober sehr konsequent. Das Problem ist, dass bei der Arbeit an diesem Plan sehr viele Fehler gemacht wurden. Aber ich habe den Eindruck, dass jetzt zum ersten Mal bei der EU-Kommission und in Deutschland ein klares Bild da ist, was man genau braucht, um die Zusammenarbeit mit der Türkei umzusetzen. Es muss jetzt sehr schnell zu einem Durchbruch kommen, hoffentlich schon nächste Woche, aber auf jeden Fall in den nächsten Wochen.

tagesschau.de: Ein Fehler Merkels wird darin gesehen, dass sie Anfang September die Flüchtlinge nach Deutschland ließ und sie sich nicht mit den anderen EU-Staaten abgestimmt hat.

Knaus: Das zählt zu den Mythen, die vor allem der ungarische Premierminister Viktor Orban seit einer ganzen Weile in Europa herumträgt. Welche Grenzen hätte Merkel öffnen können? Die Leute waren bereits im Schengen-Raum. Es ist ebenso falsch zu sagen, Deutschland habe das Dublin-System ausgehebelt. Es war Ungarn, das bereits im Juli angekündigt hat, dass es Dublin nicht mehr anwenden wolle.

Tatsächlich ist bereits im ersten Halbjahr 2015 eine Rekordzahl an Leuten in die EU gekommen: mehr als 500.000 in sechs Monaten. Das waren doppelt so viele wie 2014 und fünf Mal so viele wie im Durchschnitt in die EU kommen. Zu dem Zeitpunkt wurde Merkel noch als kaltherzig kritisiert wegen ihrer Worte zu dem palästinensischen Flüchtlingsmädchen.

Ihre einzige schwerwiegende Entscheidung, wegen der wirklich mehr Leute nach Deutschland kommen, war zu sagen: Deutschland werde sich nicht an einem Wettbewerb beteiligen, die Bedingungen für Flüchtlinge zu verschärfen, also eine Spirale nach unten. Daran haben sich alle in Deutschland, auch Bayern gehalten. Deshalb ziehen Flüchtlinge nicht weiter nach Polen, Frankreich oder Dänemark, sondern bleiben in Deutschland. Rechtlich und politisch war es die richtige Entscheidung. Jetzt geht es aber darum, den Zustrom in kontrollierte Bahnen zu bringen. Auch daran arbeitet sie.

Türkei traut der EU nicht

tagesschau.de: Was war dann Merkels Fehler?

Knaus: Nach dem Entschluss, mit der Türkei zu verhandeln, war es ein Fehler, diese Verhandlungen der EU-Kommission zu überlassen, nicht wegen eines Mangels an Kompetenz - Vizepräsident Frans Timmermans ist wahrscheinlich der kompetenteste Mann überhaupt für die Gespräche, der noch dazu in der Türkei anerkannt ist. 

Das Problem war die Institution an sich. Aus türkischer Sicht hat die EU kaum Glaubwürdigkeit in dieser Frage. Als Ganze ist sie Flüchtlingen gegenüber nicht sehr offen. Die islamophoben Töne führender Politiker von Ungarn über Tschechien, Polen und wichtige Oppositionsparteien in westeuropäischen Ländern haben zusammen mit einem Jahrzehnt von Enttäuschungen und Verbitterung zwischen Ankara und Brüssel dazu geführt, dass die Türken die EU-Kommission und die EU nicht wirklich ernst genommen fühlt. 

Wir haben von Anfang an vorgeschlagen, dass Deutschland die Verhandlungen führt. Deutschland ist in einer anderen Position durch seine Verweigerung, auf Kosten der Flüchtlinge Stimmung und die Flüchtlinge zu einer Frage der Muslime zu machen. Auch ist die Türkei strategisch auf Deutschland angewiesen. Zwischenzeitlich wurde da viel Zeit verloren. Jetzt verhandeln Deutschland, die Niederlande, die EU-Kommission und die Türkei die wirklich wichtigen Dinge.

Umsiedlungsplan aus Griechenland gescheitert

tagesschau.de: Sehen Sie weitere Fehler in Merkels Politik?

Knaus: Merkel hat viel zu lange auf eine gesamteuropäische Lösung gesetzt, zum Teil auf Basis von Vorschlägen aus Brüssel, inklusive des vollkommen verunglückten und falsch entworfenen Programms der Umsiedlung aus Griechenland.

Es klang zwar europäisch und solidarisch, war aber von Anfang an nicht richtig durchdacht. Nach vier Monaten sind gerade einmal 300 Menschen umgesiedelt - eine blamable Zahl. Manche halten immer noch daran fest, ohne jede Chance darauf, dass es besser wird. 

Aber selbst wenn das Programm funktioniert hätte, hätte es keinen Nutzen gebracht, weder für Griechenland, noch für die Flüchtlinge. Ein Beispiel: Von Dezember bis Februar sind etwa 200.000 Menschen nach Griechenland gekommen, was relativ geringe Zahlen sind. Im Rahmen des Programms wären dann 120.000 verteilt worden, wenn alles geklappt hätte. Griechenland wäre immer noch auf 80.000 Menschen sitzen geblieben. Eine solche Obergrenze führt außerdem dazu, dass die Menschen schneller nach Griechenland kommen wollen. Die Flüchtlinge riskieren also ihr Leben und bezahlen Schlepper.

Türkei an Kooperation interessiert

tagesschau.de: Es heißt in Einschätzungen, die Türkei habe als Verhandlungspartner mehr Macht, weil sie den Flüchtlingsstrom regulieren könne. Ist die Türkei in der stärkeren Position?

Knaus: In der Tat lassen sich Seegrenzen grundsätzlich nur in Kooperation mit den Nachbarn beherrschen. Das gilt auch für Spanien und Marokko. In dieser Hinsicht ist Europa von den Handlungen der Türkei abhängig.

Andererseits braucht die Türkei Europa und vor allem Deutschland heute mehr als je zuvor. Ihre sicherheitspolitische Lage ist gefährlicher als je seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Russland schwächt die Türkei in Syrien durch das Vertreiben von Sunniten in die Türkei. Die Türkei ist im Kampf mit den Kurden und dem "Islamischen Staat". Sie hat keine Beziehungen mit Damaskus und Ägypten und ist umgeben von Konflikten und braucht in dieser Lage eine EU, die nicht in das Pro-Putin- und islamophobe Lager fällt.

Dafür braucht die Türkei einen Erfolg jener, die eine Zusammenarbeit mit ihr wollen, also Deutschland. Das ist den türkischen Politikern in den vergangenen Monaten immer bewusster geworden. Seit Wochen sagen mir türkische Spitzenbeamte und Botschafter, sie selbst hätten ein Interesse, mit der EU und Deutschland die Krise zu bewältigen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Aufgabe die NATO in der Ägäis erfüllen und wie eine Lösung für Deutschland, die Türkei und Griechenland aussehen kann.

NATO-Mission als Kommunikationsplattform

NATO-Mission als Kommunikationsplattform

tagesschau.de: Jetzt soll die NATO die Ägäis kontrollieren. Ist die NATO die richtige Institution dafür oder hätte es nicht die EU-Grenzschutzagentur Frontex übernehmen sollen?

Knaus: Man muss sich zunächst einmal über die Aufgabe im Klaren sein. Die Reise von Flüchtlingen durch die Ägäis kann die NATO, aber auch Frontex nicht verhindern. Ohne Umsetzung des Rücknahmeabkommens zwischen Griechenland und der Türkei kann man nur Leben retten. Man muss dann überlegen, was mit jenen geschieht, die gerettet werden und zum Beispiel auf einem deutschen Boot einen Asylantrag stellen könnten. 

Eine wichtige Aufgabe kann der Einsatz aber erfüllen: Eine Kommunikationsplattform für Griechenland und die Türkei zu schaffen und Daten über die Vorgänge in der Ägäis auszutauschen. Dann könnten unter Umständen auch mehr Leben gerettet werden. In Griechenland zum Beispiel erhebt das Militär die Daten. Die hat nicht einmal die griechische Küstenwache.

Das größte Umsiedlungsprojekt der Geschichte

tagesschau.de: Sie schlagen vor, die Seegrenzen dicht zu machen, Flüchtlinge aus Griechenland zurück in die Türkei zu schicken. Deutschland und andere EU-Länder nehmen dafür aus Flüchtlingslagern in der Türkei Menschen auf, die ausgesucht werden.

Knaus: Ja, es wäre so einfacher, bliebe aber immer noch eine Herausforderung. Denn es wäre das größte humanitäre Umsiedlungsprogramm der Geschichte. Es geht um einige 100.000 Menschen im Jahr.

Aber die Flüchtlinge würden nicht mehr das Schleppergeschäft beleben, weil man sie eben aus der Türkei holt, und zwar nur die syrischen Flüchtlinge. Sie würden nicht mehr riskieren, in der Ägäis zu ertrinken. Man könnte Familien übernehmen und hätte so nicht mehr die herzzerbrechenden Diskussionen über die Zusammenführung von Familien. 

Mann würde zudem den Konsens in europäischen Demokratien erhalten. Denn man würde Syrer auswählen und könnte ihre Identität auf Sicherheitsrisiken überprüfen. Es wäre sicherheitspolitisch und menschenrechtlich ein sinnvolles Programm. 

Überdies würde Europa klar signalisieren, dass man die Türkei nicht einfach zu einer Pufferzone und einem Raum riesiger Flüchtlingslager für die größte Flüchtlingskrise der Welt machen kann. Nur wenn das passiert, wäre die Türkei bereit, tatsächlich in einem noch nie da gewesenen Ausmaß über das Rücknahmeabkommen mit Griechenland Tausende zurückzunehmen. Das wäre eine solidarische Verteilung der Verantwortung, die funktionieren könnte.

Es könnte auch etwas Gutes entstehen

tagesschau.de: Für Griechenland ist die Lage sehr schwierig, schon durch die Wirtschaftskrise, jetzt zusätzlich durch die wieder wachsende Zahl an Flüchtlingen. Steht das Land vor dem Kollaps?

Knaus: Wenn diese Krise so weiterläuft wie in den vergangenen Tagen und Griechenland sich selbst überlässt. Selbst wenn sich die Flüchtlinge neue Routen über den Balkan suchen, würde dieses Stauen von Flüchtlingen andauern und in Griechenland das Gefühl bleiben, unfair behandelt zu und in die Enge getrieben zu werden, ohne tatsächlich etwas dafür zu können.

Die Lage wird sich weiter aufheizen. Man fühlt sich ohnehin schon von Europa missverstanden. Dann wird die Aufgabe unglaublich schwieriger für jeden in Griechenland, der auf Zusammenarbeit mit Europa setzen will.

tagesschau.de: Worin sehen Sie einen Ausweg?

Knaus: Das strategische Ziel kann nicht sein, die Balkanroute zunächst besser zu managen oder ganz zu stoppen. Das strategische Ziel muss sein, dass es keine Balkanroute gibt - indem man den nicht aus Syrien Kommenden ein klares Signal gibt, dass sich der Weg nicht lohnt. Sie sollten sich also erst gar nicht auf den Weg in die Türkei machen.

Den Syrern in der Türkei muss man  eine reelle Chance geben, entweder mit Hilfe europäischer Mittel ein besseres Leben dort aufzubauen oder umgesiedelt zu werden. Daran haben sowohl Griechenland als auch Deutschland ein Interesse. Wenn das zu einer besseren Zusammenarbeit mit Deutschland führt und zu mehr Verständnis für die Nöte der Griechen, dann könnte sogar etwas Gutes herauskommen.

Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de