Ursula von der Leyen
analyse

EU-Kommissionspräsidentschaft Wird von der Leyen noch mal antreten?

Stand: 06.05.2023 15:59 Uhr

In Brüssel wird gerade die Frage heiß diskutiert, ob die deutsche Kommissionspräsidentin für eine zweite Amtszeit antritt. Es geht um das Spitzenkandidatenprinzip - und die Risiken, die von der Leyen damit eingehen würde.

Dass Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin anstrebt, daran zweifelt in Brüssel kaum jemand. Aber will sie auch Spitzenkandidatin werden? Als amtierende Kommissionspräsidentin Wahlkampf machen, durch 27 EU-Länder touren und für die Europäische Volkspartei auf Stimmenfang gehen? So etwas hatte die EU noch nicht.

Umso leidenschaftlicher wird die Frage gerade in Brüssel diskutiert. In gut einem Jahr findet die nächste Europawahl statt, die Weichen müssen bald gestellt werden. Aber Ursula von der Leyen schweigt, sie hat sich noch nicht erklärt. Das lässt Spielraum für Spekulationen. 

Sie führte Europa unaufgeregt durch Krisen

Eigentlich galt die Christdemokratin als natürliche Kandidatin. Präsidentin der EU-Kommission seit drei Jahren, hoch angesehen in ganz Europa und darüber hinaus, bis nach Washington - weil sie Europa unaufgeregt und sicher durch schwere Krisen geführt hat. Sie hat Impfstoff für alle beschafft, Sanktionen gegen Russland paketweise organisiert (im Moment wird am elften Paket gearbeitet) und Quertreiber wie Orban und Morawiecki mit Geldentzug unter Druck gesetzt.

Wäre sie nicht Kommissionspräsidentin, sondern Regierungschefin in einer EU-Hauptstadt, zum Beispiel Bundeskanzlerin in Berlin oder Premierministerin in Madrid - es wäre klar, dass sie für ihre Partei als Spitzenkandidatin in den nächsten Wahlkampf zöge. 

Das Prinzip der Spitzenkandidaten

Aber in der EU ist das anders. In der EU gibt es wenig Erfahrung mit dem Spitzenkandidatenprinzip. Es ist noch jung und es hat in der Geschichte der Union auch nur einmal funktioniert. Es bedeutet, dass Kommissionspräsident nur werden kann, wer als europaweiter Spitzenkandidat die Wahlen gewonnen hat.

2014 war Jean-Claude Juncker bei der Europawahl erfolgreicher Spitzenkandidat der konservativen EVP, und die Staats- und Regierungschefs hatten kein Problem damit, ihn anschließend zum Kommissionspräsidenten zu berufen. Er war einer von ihnen, 18 Jahre lang hatte er als Premierminister von Luxemburg mit am Gipfeltisch gesessen. Kein Risiko also. Und mit seinem sozialdemokratischen Konkurrenten Martin Schulz hatte Juncker vor der Wahl verabredet, dass der Verlierer den Gewinner unterstützen würde. Damit war die Mehrheit im Europaparlament gesichert. 

 

2019 erlebte der EVP-Kandidat eine Bruchlandung

Schon bei der nächsten Europawahl funktionierte das Spitzenkandidatenprinzip aber nicht mehr. 2019 erlebte der CSU-Politiker Manfred Weber eine Bruchlandung. Als Spitzenkandidat der EVP erreichte er zwar die meisten Stimmen, aber mehrere Staats- und Regierungschefs hielten ihn für ungeeignet. Keine Erfahrung mit Regierungsämtern. Weber hatte auch keine Parlamentsmehrheit hinter sich.  

An die Spitze der Kommission kam von der Leyen - völlig überraschend. Frankreichs Präsident Macron hatte die Idee. Umso wichtiger, findet der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke, dass sie jetzt als Spitzenkandidatin für die Europawahl antritt. "Ich halte das Spitzenkandidatenprinzip für richtig", sagt der Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet, "weil Politik immer auch über Personalisierung und Köpfe funktioniert". Das sei entscheidend für die Wählermobilisierung und ganz grundsätzlich auch nötig, "um die europäische Demokratie weiterzuentwickeln".

Dobrindts Blutgrätsche

Auch in anderen Parteien sieht man das so. Entsprechend harsch die Reaktionen, als CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt das Spitzenkandidatenprinzip für ungeeignet erklärte. "Dass die CSU davon nichts mehr wissen will, muss man als Blutgrätsche in Richtung Ursula von der Leyen verstehen", ätzte der FDP-Abgeordnete Moritz Körner. 

Inzwischen haben sich die CSU-Granden einschließlich Markus Söder zwar gegen Dobrindt und für das Spitzenkandidatenprinzip ausgesprochen. Aber Dobrindt steht nicht allein mit seinen Bedenken, sie werden auch von Politikwissenschaftlern geäußert.

Spitzenpolitiker sind im Ausland meist unbekannt

"Das Spitzenkandidatensystem war ein verfrühter Versuch, die Europäische Union wie einen Staat zu behandeln", urteilt Michael Leigh, der Europapolitik an der renommierten School of Advanced International Studies der Johns Hopkins Universität in Bologna lehrt. Die Wirklichkeit sehe ganz anders aus, so Leigh. Allein schon, weil renommierte Spitzenpolitiker eines Landes in einem anderen EU-Land meist völlig unbekannt seien.

Der Wissenschaftler aus Bologna spricht nicht nur aus akademischer Sicht, sondern auch aus praktischer Erfahrung. Michael Leigh war von 2006 bis 2011 in der EU-Kommission einer der mächtigen Generaldirektoren, zuständig für Erweiterung.

Sein Fazit: Wenn die Entscheidung für den Kommissionspräsidenten wie in den meisten bisherigen Fällen bei den Staats- und Regierungschefs liegt, haben diese die Möglichkeit, auf der Basis des Wahlergebnisses erfahrene und profilierte Minister oder Ex-Regierungschefs in den Mitgliedsländern zu suchen und diese an die Spitze der Brüsseler Kommission zu stellen. Die Zustimmung des Parlaments bleibt gleichwohl notwendig.  

 

Scheut von der Leyen einen Wahlkampf?

So steht es auch im EU-Vertrag (in dem das Spitzenkandidatenprinzip gar nicht erwähnt wird), und so war es auch 2019 im Fall von Ursula von der Leyen. Dabei fällt wieder ins Gewicht, dass sie sich selbst bis jetzt noch gar nicht zu der Frage geäußert hat, ob sie Spitzenkandidatin werden will.

Es könnte an den Risiken liegen, so wird spekuliert, die ein Wahlkampf als Spitzenkandidatin für die amtierende Kommissionspräsidentin durchaus mit sich brächte. Dann nämlich, wenn um politische Inhalte gerungen wird - um die Umweltpolitik zum Beispiel, den Green Deal, von der Leyens wichtigstes Projekt, einer Herzensangelegenheit - vom schnellen Verbrenner-Aus bis zur Halbierung des Pestizide in Europa. Bei den Grünen hat sie damit Punkte gesammelt, bei den eigenen Parteifreunden weniger. Und das könnte im Wahlkampf ein echtes Problem werden. 

Helga Schmidt, ARD Brüssel, tagesschau, 06.05.2023 14:58 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 06. Mai 2023 um 06:40 Uhr.