
Selenskyjs US-Besuch "Die Amerikaner machen, Deutschland redet"
Der ukrainische Präsident besucht symbolträchtig die USA und bekommt neue Hilfszusagen. Der Experte für Sicherheitspolitik Mölling erklärt, was das bedeutet: für die Ukraine, für die USA, für Deutschland - und welche Optionen Russland hat.
tagesschau.de: Präsident Selenskyj reist spektakulär in die USA, er wird vom Präsidenten empfangen, spricht vor dem Kongress und bekommt neue Hilfszusagen. Was überwiegt in Ihren Augen: der symbolische Akt der Reise und des Empfangs - oder die weiteren Hilfszusagen?
Christian Mölling: Beides ist wichtig. Der symbolische Akt, die persönliche Begegnung und die Ansprache sind etwas anderes als ein Treffen per Videokonferenz. Selenskyj hat sich mit dieser Reise in Gefahr gebracht, er hat auf Englisch in der Muttersprache der US-Abgeordneten gesprochen. Das macht in den Gesprächen den entscheidenden Unterschied bei der Atmosphäre aus. Es ging um das Absichern der Hilfe in die Zukunft. Dazu ist ein persönliches Gespräch sehr wichtig, weil man sich so besser abstimmen und rückversichern kann, wie ernst es einem ist und ob die Hilfe tatsächlich ankommt.

Christian Mölling ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er ist Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, NATO und Deutschlands.
"Eine perfekte Mischung"
tagesschau.de: Hatte Biden bei der Einladung auch die Republikaner im Blick, die im Januar die Mehrheit im Repräsentantenhaus übernehmen und immer mal wieder Kritik am Umfang der Hilfe für die Ukraine geäußert haben?
Mölling: Biden hat die Gelegenheit geschaffen, Selenskyj da zu haben, der gegenüber der Öffentlichkeit einen Punkt setzen kann, den er, Biden, glaubwürdig nicht machen kann. Es geht hier um das Stilmittel der Authentizität. Keiner kann das Anliegen der Ukraine so vortragen, wie Selenskyj. Und für den ukrainischen Präsidenten war es die Gelegenheit, zu vielen zu sprechen.
Biden war klar, dass Selenskyj weitere Hilfe erbeten würde. So eine Begegnung wird vorbereitet, man stellt sich auf mögliche Fragen und Forderungen ein, legt sich Antworten zurecht. Insofern war das Treffen ein Kulminationspunkt in einer kritischen Phase des Krieges.
Die Ukraine kann viel erreichen - aber sie ist im Wesentlichen von den USA abhängig, die immer noch der größte Geber sind - nicht nur bei der Militärhilfe, sondern auch bei den anderen Hilfen. Am Ende war es ein "perfekte Mischung" aus Symbolik und handfestem Ergebnis, das alle Kritiker ruhigstellen sollte.
"Verhandlungsspielraum für Republikaner wird kleiner"
tagesschau.de: Und ist es Biden gelungen, auch gegenüber den Republikanern eine Linie zu ziehen, hinter der sie in den Haushaltsgesprächen nicht zurückkönnen?
Mölling: Ich glaube nicht, dass die Republikaner sich jetzt auf eine Art von nationaler Linie festlegen lassen. Die Ukraine-Hilfe ist ein Teil der Haushalts-Verhandlungen. Die Republikaner sind noch unentschieden, welche Linie sie in Zukunft verfolgen. Derzeit gibt es mehr Beinfreiheit für die Leute, die Selenskyj unterstützen wollen, denn noch ist nicht klar, wer Präsidentschaftskandidat der Republikaner wird. Nicht alle Republikaner sind ja gegen die Unterstützung der Ukraine.
Selenskyj hat die Idee des Freiheitskampfes stark in den Mittelpunkt gerückt. Nichts ist in der Erzählung über die amerikanische Nation tiefer verankert als der Kampf um Freiheit. Dagegen können die Republikaner gar nichts haben.
Noch ist in den Verhandlungen nichts entschieden. Aber Verlauf und Ergebnisse des Besuchs machen den Handlungsspielraum für die Republikaner kleiner. Jetzt Selenskyj zuzustimmen und ihm später die Hilfe zu streichen wird schwerer.
"Diese Zusagen sind vital"
tagesschau.de: Wie sehr helfen der Ukraine die neuen Zusagen der USA für eine unmittelbare und auf lange Zeit angelegte Hilfe?
Mölling: Diese Zusagen sind vital. Die Ukrainer haben großen Bedarf an Munition und Flugabwehr. Das zugesagte Patriot-Luftabwehrsystem stellt vielleicht keinen Paradigmenwechsel dar. Aber der permanente Fluss von Munition zur Flugabwehr ist weiterhin sichergestellt. Das ist entscheidend.
Die Amerikaner haben schon vor einigen Wochen in der industriellen Produktion die Weichen so gestellt, dass Bidens Versprechen von "Hilfe, was immer sie auch kostet" nicht nur schöne Worte sind, wie sie aus Deutschland kommen. Es sind die Amerikaner, die hier den von Scholz beschworenen "Wumms" machen.
"Putin hat keine andere Wahl"
tagesschau.de: Die Ukraine warnt vor einer russischen Offensive noch in diesem Winter. Ist das ein realistisches Szenario? Ist Russland dazu überhaupt in der Lage?
Mölling: Die russische Führung hat gar keine andere Wahl. Putin hat sich in eine Zwickmühle begeben, indem er Gebiete annektiert hat, über die er gar keine Kontrolle ausübt, sondern im Gegenteil, er verliert sogar die Kontrolle darüber.
Dazu kommt auch, dass man neue Soldaten rekrutiert hat. Auch wenn sie nicht die volle Kampfkraft mitbringen, kann Putin nicht anders, als eine Offensive zu starten und zu versuchen, Gelände zurückzugewinnen.
"Kriegsziele nur durch Offensive zu verwirklichen"
tagesschau.de: Und die Ukraine wird das Gleiche tun.
Mölling: Diese beiden Bilder muss man zusammenbringen. Die Ukraine wird nicht nachlassen und plant ihrerseits eine neue Offensive. Anders ist dieser Krieg von keiner Seite zu entscheiden, sind die Kriegsziele nicht zu verwirklichen. Die Kriegsziele sind miteinander nicht vereinbar und lassen sich auch nicht durch ein Einfrieren des Konfliktes herbeiführen.
"Russland muss Krieg auf Gedeih und Verderb weiterführen"
tagesschau.de: Russland stockt seine Streitkräfte auf, aber wie ist es um die Munition bestellt? Hat Russland überhaupt noch genug Munition, um große Offensiven auszuführen, soweit man das von außen beurteilen kann?
Mölling: Russland musste den Iran, Nordkorea und auch Belarus um Hilfe bitten beziehungsweise Belarus dazu zwingen. Daran sehen wir, dass die eigene Munition nicht mehr ausreicht. Außerdem hat die russische Armee offensichtlich angefangen, Munition zu verwenden, die schon Jahrzehnte alt ist. Das muss aber nicht gegen eine Offensive sprechen. Russland hat in den vergangenen Monaten gezeigt, dass es bereit ist, Menschenleben systematisch zu verheizen.
Russland muss diesen Krieg auf Gedeih und Verderb weiterführen, weil Putin sich festgelegt hat. Er kommt da nicht mehr heraus, weil das sonst das Ende seiner politischen Karriere bedeutet. Deshalb kann er jetzt auch nicht einfach mit der Ukraine verhandeln. Außerdem hat der neue Oberbefehlshaber der russischen Truppen für die Ukraine mehr Systematik in die Kriegsführung gebracht, sodass die Armee wahrscheinlich geordneter agieren wird.
tagesschau.de: Ziel der Mobilisierung ist ja auch, mehr Rotation zwischen kämpfenden und ausgeruhten Einheiten zu ermöglichen. Ist das angesichts der unzureichenden Kampfkraft realistisch?
Mölling: Ich bin skeptisch. Wenn sie Soldaten an die Front schicken, die nicht kämpfen können, werden sie das nicht überleben. Und dann haben sie ja wieder niemanden, der von der Front in die Ruhephase rotieren kann. Und es fehlt Russland an modernen Waffensystemen. Auf der ukrainischen Seite ist die einzige Frage: Wird der Fluss an Munition, aber auch an Material, aufrechterhalten oder nimmt er hoffentlich sogar noch zu?
"Deutschland ist in einer Zwickmühle"
tagesschau.de: Nehmen die jüngsten Zusagen der USA insofern die Europäer noch stärker in die Pflicht?
Mölling: Ja, und insbesondere Deutschland ist jetzt wieder in der Zwickmühle, weil die Amerikaner im Alleingang einfach handeln. Die deutsche Seite hat im Streit mit Polen um die Weiterreichung von Patriot-Systemen an die Ukraine gesagt, das ginge nicht im Alleingang. Und jetzt kommen die Amerikaner und machen das einfach, während Deutschland darüber redet.
Die Amerikaner bekennen sich zu ihrer Verpflichtung gegenüber der Ukraine, diesen Krieg irgendwann zu einem Ende zu bringen, liefern ein Luftabwehrsystem und bilden dann auch noch auf Stützpunkten in Deutschland aus. Da wird auf deutsche Befindlichkeiten wenig Rücksicht genommen. Natürlich können die USA auch auf einen großen Bestand zurückgreifen. Und die anderen Europäer haben zusammengekratzt, was sie noch haben.
tagesschau.de: Deutschland hat auch auf seine Verpflichtungen gegenüber der NATO verwiesen
Mölling: Darauf hat der NATO-Generalsekretär gesagt, dass das weniger wichtig sei als die Unterstützung der Ukraine. Da steht Deutschland auf verlorenem Posten.
Deutschland versteckt sich hinter dem Argument der Bündnisverpflichtungen, um nicht aktiver werden zu müssen. Dabei sind viele NATO-Alliierte schon viel weiter. Die Unterstützung der Ukraine ist für viele eine Art der erweiterten Bündnisverteidigung. Denn das, was an russischem Material in der Ukraine gerade zerstört wird, macht uns im theoretischen Falle eines Angriffs Russlands auf NATO-Gebiet keine Kopfschmerzen mehr. Insofern dient die Unterstützung der Ukraine der Sicherheit ganz Europas.
"Die Bundesregierung ist unwillig, Konsequenzen zu ziehen"
tagesschau.de: Dann geht es aber in der Weiterung um die Frage nach Kampfpanzern.
Mölling: Diese Frage kommt jetzt zurück. Auch deswegen, weil das sowjetische Material, das die Ukraine bislang bekommt, irgendwann zerschossen ist. Deutschland hat sich im Moment ein bisschen Zeit erkauft. Aber irgendwann braucht die Ukraine Nachschub.
Das Problem ist, dass die Bundesregierung nicht willig ist, nach vorne zu gucken und die Konsequenzen aus ihren eigenen Worten zu ziehen. Sie hat genauso gesagt wie Biden: Wir unterstützen die Ukraine so lange, wie es nötig ist. Wir tun aber nicht alles dafür, dass daraus eine kraftvolle Unterstützung wird.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de