Ein Mann klettert über die Trümmer eines zerstörten Hauses im ukrainischen Borodyanka.
Interview

Sechs Monate nach Russlands Angriff "Wir können diesen Konflikt mitgestalten"

Stand: 24.08.2022 03:54 Uhr

Sechs Monate nach dem Angriff auf die Ukraine hat Russland nichts von seinen Zielen zurückgenommen. Die Sicherheitsexpertin Major spricht im Interview darüber, was das für den Krieg bedeutet und warum sich der Westen auf eine lange Phase der Hilfe einstellen muss.

tagesschau.de: Wenn Sie auf sechs Monate Krieg zurückschauen - in welcher Phase befinden wir uns jetzt?

Claudia Major: Man kann das Kriegsgeschehen grob in drei Phasen unterteilen. Am Anfang gab es eine Phase von Schock und Entsetzen - darüber, dass es tatsächlich einen Angriffskrieg in Europa gab, Russland die Ukraine überfallen hatte und auf Kiew marschierte.

Nach diesem ersten Schock kam ein gewisser Optimismus, weil die Ukrainer so gut widerstanden haben und der russische Plan, Kiew innerhalb weniger Tage einzunehmen und einen Regimewechsel durchzuführen, nicht funktioniert hatte. Der Westen raufte sich zusammen, verabschiedete Sanktionen in bislang nicht gesehenem Ausmaß, die Waffenlieferungen begannen und der Ukraine gelang es mit zunehmender westlicher Unterstützung, Russland zurückzuschlagen.

Jetzt sind wir in der dritten Phase und sehen auf einen langen, schwierigen Konflikt, bei dem nicht klar ist, wann und wie er enden wird. Die Veränderungen an der Front sind aktuell gering. Und jetzt stellt sich die Frage, was der nächste Schritt sein wird: Gelingt die ukrainische Offensive, etwa die Rückeroberung von Cherson? Wer schafft es, Kräfte bereitzustellen und einen signifikanten Unterschied zu machen? Hält die westliche Unterstützung langfristig?

Claudia Major
Zur Person

Dr. Claudia Major leitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Sie ist Lehrbeauftragte am Institut d'Etudes Politiques/Sciences Po Paris und Mitglied im "Beirat zivile Krisenprävention" des Auswärtigen Amtes.

"Rasante Entwicklung auf westlicher Seite"

tagesschau.de: Wir sehen also eine Entwicklung, in der sich beide Seiten - der Westen eingeschlossen - an die jeweiligen Gegebenheiten anpassen und ständig nachsteuern.

Major: Was ich daran bemerkenswert finde, ist die rasante Entwicklung auf Seiten der westlichen Staaten, die mit ihren militärischen Unterstützungsleistungen über das hinausgewachsen sind, was sie selber von sich erwartet hätten. Hierzulande hätte sich niemand im Februar vorstellen können, dass Deutschland Panzerhaubitzen liefert.

Ich hatte im April gemeinsam mit einem Kollegen einen Drei-Punkte-Plan für die langfristige Unterstützung der Ukrainer vorgeschlagen. Der erste Schritt war die Lieferung von altem Sowjetmaterial, wie die T-72 Panzer, die Polen geliefert hat - weil die ukrainischen Streitkräfte daran ausgebildet sind und es sofort einsetzen können.

Parallel dazu sollte die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte an westlichen Systemen erfolgen, weil absehbar ist, dass die ehemaligen sowjetischen Bestände endlich sind. Zudem sollten die westlichen Staaten gemeinsam erarbeiten, welches Material sie an die Ukraine liefern können, welche temporären Einschnitte in NATO-Verpflichtungen dafür denkbar wären und wie solche Lücken wieder gefüllt werden können. Damit es dann keinen Abriss in der Unterstützung für die Ukraine gibt, war unser Hinweis damals, dass wir frühzeitig anfangen müssen, die Ukrainer an westlichen Systemen auszubilden, damit die Ukrainer an den westlichen Systemen einsatzbereit sind, wenn die sowjetischen alle verbraucht sind. Das hat dann auch stattgefunden, etwa die Ausbildung an der Panzerhaubitze 2000 in Deutschland, hätte aber auch schon eher beginnen können. Dieser zweite Schritt ist die mittlerweile erfolgt.

Und der dritte Schritt ist die Umstellung der westlichen Rüstungsindustrie in bestimmtem Maße auf die Bedürfnisse der Ukraine, damit man nicht immer ad hoc entscheidet und von einer Debatte in die nächste tappt. Man kann bestimmte Entwicklungen vorhersehen. Dass irgendwann die Debatte um Panzer kommt, war absehbar. Wir brauchen also einen langfristigen Plan, wie wir die Ukrainer systematisch militärisch ohne Abriss unterstützen können.

"Luft nach oben bei der langfristigen Planung"

tagesschau.de: Und haben wir diesen dritten Schritt getan?

Major: Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich wissen wir nicht alles, was beispielsweise in den Ramstein-Koordinations-Konferenzen läuft. Es sind auch nicht alle Lieferungen öffentlich, weshalb es mir schwerfällt, das einzuschätzen. Wir sind besser geworden, aber mein Eindruck ist, dass es Luft nach oben gibt, was die langfristige Planung angeht. Wir müssen uns aber auch im Klaren sein, dass die Rüstungsindustrie, die wir für die Ausstattung der Bundeswehr genauso brauchen wie für die Ukraine, nicht auf Knopfdruck liefern kann - das dauert.

tagesschau.de: Was muss diese langfristige Planung denn umfassen?

Major: Dazu muss man zunächst auf das offizielle russische Ziel schauen. Russland ist von seinen Zielen nicht abgewichen: die Unabhängigkeit und eigene Staatlichkeit der Ukraine abzuschaffen, die bisherige weitgehend kooperative europäische Sicherheitsordnung, abzuschaffen und internationale Regeln neu zu schreiben, etwa nach dem Recht des Stärkeren - und nicht nach der Stärke des Rechts.

Das wäre eine Sicherheitsordnung, die nicht mehr kooperativ ist, wie wir sie bislang hatten, sondern konfrontativ und revisionistisch. Das heißt aber auch: Egal, wie dieser Krieg ausgeht, ob es einen Waffenstillstand gibt oder nicht, wird eine langfristige Unterstützung der Ukraine notwendig sein - finanziell und militärisch.

Wenn Russland teilweise gewinnt, also zum Beispiel den Donbass und die Landbrücke bis zur Krim behält, heißt das nicht, dass sie in der Lage sind, den Frieden zu gewinnen. Denn die Ukraine wird dort zum Partisanenkrieg übergehen, wie sie es jetzt schon mit Angriffen hinter den russischen Frontlinien macht. Russland wird kaum in der Lage sein, das besetzte Land dauerhaft zu befrieden. Aber Russland wird sich auch kaum mit einem Teil der Ukraine zufriedengeben und zulassen, dass der andere in die EU und nach Westen strebt. Denn Russland hat sein Narrativ nicht verändert, es stellt immer noch die Existenzberechtigung der Ukraine in Frage. Solange sich die politischen Ziele Russlands nicht ändern, wird es keine Lösung geben.

Umso mehr müssen wir dann die verbleibende freie Ukraine schützen und stärken, weil sie auf absehbare Zeit nicht in die NATO und nicht in die EU kommen und von den damit verbundenen Sicherheitsgarantien wie der Beistandsklausel Art. 5 profitieren wird. Unsere Unterstützung wird also nach einem möglichen Waffenstillstand, in dem Russland einen Teil behält, immer noch weitergehen: militärisch, aber auch finanziell.

"Das Narrativ hat sich nicht geändert"

tagesschau.de: Und wenn es der Ukraine gelingt, einen Teil der verlorenen Gebiete zurückzuerobern?

Major: Wenn es den Ukrainern gelingt, ein Großteil der Gebiete zurückzuerobern, wird Russland das kaum akzeptieren. Denn an dem Narrativ, dass die Ukraine kein Existenzrecht habe, hat sich nichts geändert. Dann könnte Russland das Narrativ von der Demütigung Russlands durch den Westen nutzen, damit Kräfte mobilisieren und den nächsten Versuch rechtfertigen, und nach einer Erholungsphase die Ukraine erneut angreifen. Das heißt: Auch in diesem Szenario braucht es von uns nach einem möglichen Waffenstillstand eine noch viel stärkere militärische Unterstützung.

Eine Änderung haben wir erst dann, wenn Russland wirklich akzeptiert, von seinen Zielen abzurücken. Aber so ein politischer Wandel ist aktuell unter Putin unwahrscheinlich.

"Es liegt in unserer Hand, wie es weitergeht"

tagesschau.de: Derzeit gibt es dafür jedenfalls keine handfesten Anzeichen. Bedeutet das, mehr als ein Einfrieren des Konflikts ist nicht absehbar?

Major: Ein Krieg hört auf, wenn eine oder beide Seiten nicht mehr glauben, dass sie gewinnen kann beziehungsweise können. Anders formuliert: Momentan geht es weiter, weil beide Seiten immer noch glauben, sie können durch Weitermachen mehr gewinnen als durch Aufhören. Eine Verhandlungslösung sehe ich deshalb momentan nicht.

Man kann es aber anders wenden und sagen: Waffenlieferungen jeder Art sind die wahrscheinlich beste Möglichkeit, den Krieg zu verkürzen, um die Balance klar in eine Richtung zu drehen. Es liegt zu großen Teilen in unserer Hand, wie es weitergeht.

Russland baut auf den Faktor Zeit

tagesschau.de: Sehen Sie denn ernsthafte Chancen, dass die russische Kriegskraft so weit nachlässt, dass die ukrainische Seite, die ebenso unter großen Verlusten zu leiden hat, mehr Geländegewinne macht und Gebiete zurückerobert?

Major: Das ist enorm schwer einzuschätzen. Und es ist auch nicht immer klar, zu wessen Vorteil die Zeit spielt. Die ukrainischen Streitkräfte werden momentan von westlichen Staaten ausgerüstet und ausgebildet. Aber viel von dem gut ausgebildeten, erfahrenem ukrainischen Führungspersonal ist in den vergangenen Monaten gefallen. Auch Russland hat hohe Verluste an Material und Personal, Schätzungen zufolge sollen zwischen 15.000 und 25.000 Soldaten gefallen sein. Russland versucht jetzt, Personal nachzuführen und auszubilden - und je länger sie Zeit haben, desto besser für sie.

Russland hofft, voranzukommen, ehe die Ukraine sich gut genug aufgestellt hat. Russland glaubt auch, dass es für die Ukraine zunehmend schwieriger wird, die westliche Unterstützung zu sichern, weil Russland an unserer langfristigen Belastbarkeit zweifelt. Russland glaubt nicht, dass wir das als "verweichlichte westliche Gesellschaften" durchhalten, dass wir auch bereit sind, langfristig die Kosten zu tragen - beispielsweise mit Blick auf Energie. Wir erinnern uns an die langen Debatten über die letzten Sanktionspakete. Hält der Westen in der Unterstützung, hält die ukrainische Regierung und Gesellschaft zusammen, schafft es Russland, sein Personal zu mobilisieren? Es gibt immer wieder Berichte über Probleme bei der Rekrutierung in Russland.

"Politik der Russifizierung in besetzten Gebieten"

tagesschau.de: Was würde es bedeuten, wenn Russland in der Zwischenzeit eroberte Gebiete annektiert?

Major: Russland schafft jetzt schon Fakten mit Pässen, mit Deportationen, mit Kultur, mit Sprache, und betreibt in diesen besetzten Gebieten eine Politik der Ent-Ukrainisierung oder Russifizierung. Russland behandelt diese Gebiete, die es jetzt besetzt hält, nicht als Verhandlungsmasse, sondern behandelt sie als russisches Territorium, etwa mit der Einführung des Rubels und Referenden. Das muss man bei der Debatte um mögliche Verhandlungen mitdenken.

Mitte Mai sind die direkten Verhandlungen gestoppt - nach mehreren Treffen und Plänen, etwa dem Istanbul-Kommuniqué. Seitdem ging es vor allen um humanitäre Fragen und um Themen wie die Getreideexporte, um den Schutz des AKW Saporischschja. Die Idee, über das Ende des Krieges zu verhandeln, ist gerade leider vom Tisch.

"Ukraine kämpft für das Europa, das wir wollen"

tagesschau.de: Bleibt als vielleicht entscheidendes Fazit, dass die Ukraine in sechs Monaten Krieg Russland widerstehen konnte?

Major: Die positive Botschaft ist: Die Ukraine besteht noch als eigenständiger Staat, weil sie kämpft und weil wir sie unterstützt haben. Russland hält circa 20 Prozent der ukrainischen Territoriums besetzt, aber hat sein Ziel, die Ukraine als eigenständigen Staat auszulöschen, nicht erreicht.

Und: Wir, die westlichen Staaten, können diesen Konflikt mitgestalten. Hätte die Ukraine die bisherige militärische, finanzielle und wirtschaftliche humanitäre Unterstützung nicht bekommen, wäre sie nicht da, wo sie jetzt ist. Weil die Ukraine de facto für das Europa kämpft, was wir haben wollen, haben wir mit unserer Unterstützung dazu beigetragen, dass die Ukraine noch besteht. Dann lasst uns doch diese Unterstützung noch weiter intensivieren.

Es geht nicht darum, einen Angriffskrieg gegen Russland zu führen. Es geht darum, dass die Ukraine als souveräner Staat in den Grenzen, die sie vorher völkerrechtlich verankert hatte, bestehen kann. Und das ist in unserem sicherheitspolitischen Interesse.

Caren Miosga
tagesthemen live aus Kiew

Ein halbes Jahr nach Russlands Angriff auf die Ukraine: Wie leben die Menschen im Krieg und mit seinen Folgen? tagesthemen-Moderatorin Caren Miosga ist mit WDR-Reporter Vassili Golod eine Woche durch das Land gereist und hat mit Ukrainerinnen und Ukrainern über Leben und Überleben im Krieg gesprochen. Die Reise endete am 24. August - dem Unabhängigkeitstag der Ukraine und dem Tag, an dem vor sechs Monaten die russische Invasion begann. Zu diesem Anlass wurden die tagesthemen live aus Kiew gesendet, moderiert von Caren Miosga.

"Keine Basis für eine Übereinkunft"

tagesschau.de: Jetzt gehen wir auf den Herbst zu und auf einen langen Winter. Halten Sie vorher eine Waffenpause für denkbar? Und würde die "nur" der Regenerierung dienen, bevor es im Frühjahr zu neuen Kämpfen kommt?

Major: Ich wäre generell mit dem Begriff Waffenstillstand vorsichtig. Wir haben zum Beispiel in Syrien gesehen, dass solche Pausen oft nur taktische Pausen waren. Meine Kollegin Margarete Klein hat den Begriff "Sequenzkrieg" benutzt - ein bisschen taktische Pause, in der die Kräfte regeneriert werden können, und wenn es wieder einigermaßen läuft, dann kommt es wieder zu einem Angriff.

Russland ist in den vergangenen sechs Monaten von seinem Narrativ, warum es diesen Krieg führt, nicht abgewichen. Und solange Moskau immer noch behauptet, dass die Ukraine kein Existenzrecht habe, gibt es für mich wenig Anlass zu glauben, dass sie mit diesem Krieg aufhören - es sei denn, Russland wird militärisch gestoppt. Wenn Russland unter Putin überzeugt ist, dass sich ein Angriffskrieg lohnt und es mit Krieg seine Ziele erreichen kann, dann sind andere Länder sehr besorgt, etwa Moldau und Georgien, dann ist aber auch die Sicherheitslage für die NATO und EU-Länder schlechter.

Solange Putin von seinen Positionen nicht abrückt, gibt es keine Basis für eine Übereinkunft. Deshalb, glaube ich, schauen wir viel zu sehr auf einen Waffenstillstand und hoffen, dass dann vieles gut wird. Aber hinter dem militärischen Konflikt - den man mit einem Waffenstillstand einfrieren kann - steht der politische Konflikt, nämlich die Zukunft der Ukraine: wie souverän sie sein wird, in welchen Grenzen sie bestehen wird, welche Garantien sie erhält, um in Zukunft vor Angriffen geschützt zu werden - und in welcher Sicherheitsordnung wir in Europa insgesamt leben werden. Diese Themen werden uns auf lange Sicht beschäftigen.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 24. August 2022 um 08:25 Uhr.