Soldaten der ukrainischen Armee üben einen Einsatz in der Nähe der Front bei Donezk
interview

Mögliche Frühjahrsoffensive der Ukraine "Die schwierigste militärische Operation"

Stand: 28.04.2023 10:55 Uhr

Bereitet sich die Ukraine auf eine Frühjahrsoffensive vor? Der ukrainische Militärexperte Beleskow erläutert, mit welchen Schwierigkeiten die Armee rechnen müsste - und auf was es dabei ankäme.

tagesschau.de: Die ukrainischen Streitkräfte haben einen Brückenkopf am linken Ufer des Dnipro, in der Region Cherson errichtet. Ist das schon ein Teil der angekündigten Gegenoffensive?

Mykola Beleskow: Zum aktuellen Zeitpunkt führen die ukrainischen Verteidigungskräfte am Dnipro hauptsächlich Ablenkungsmanöver durch - Aktionen, die die russischen Truppen dort binden. Der Fluss als großes Wasserhindernis, die fehlende Lufthoheit und der Mangel an Feuerkraft machen es aber unmöglich, hier größere Offensivaktionen durchzuführen. Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass vom rechten Dnipro-Ufer aus ergänzende Aktionen durchgeführt werden. Zu einem günstigen Zeitpunkt, wenn die russischen Verteidigungslinien im Süden geschwächt sind.

Mykola Beleskow
Zur Person

Mykola Beleskow ist Research Fellow am ukrainischen "National Institute for Strategic Studies" in Kiew. Er forscht zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und ist zudem Militäranalyst der Stiftung "Come Back Alive".

"Die Frontlinie hat sich kaum bewegt"

tagesschau.de: Wie bewerten Sie die Winteroffensive der russischen Armee?   

Beleskow: Es ist, wie der Chef des ukrainischen Geheimdienstes sagte: Die Tatsache, dass wir keine ernsthaften Ergebnisse von russischer Seite sehen, bedeutet nicht, dass die Russen keine Anstrengungen unternommen haben. Sie haben es nicht nur bei Bachmut versucht. Sie haben versucht, Kupjansk zu erobern. Sie haben versucht, uns von Kremenna aus bis nach Lyman zurückzudrängen. Neben Bachmut haben sie auch versucht, Awdijiwka zu umgehen und die Kommunikation dort abzuschneiden. Und sie haben auch versucht, Wuhledar zu erobern.

Mit anderen Worten: Es war alles Teil desselben Plans. Doch dieser Plan ist gescheitert. Er hat keine Ergebnisse gebracht. Sie haben viele Menschen verloren, sie haben viel Ausrüstung verloren. Hunderte von Einheiten wurden während der zweiten Offensive vernichtet.

Die Russen haben offensiv gekämpft, weil sie ein bestimmtes politisches Ziel verfolgen. Aber die Kremlführung ist immer noch nicht in der Lage, die eigenen Ziele mit den tatsächlichen militärischen Fähigkeiten Russlands in Einklang zu bringen. Sie kämpfen sehr, sehr schlecht, aber ihre Aufgabe ist ständige Offensive, das sind maximalistische Ziele. Die Offensive ist gescheitert. Denn die Frontlinie hat sich kaum bewegt.

Woran sich das russische Scheitern ablesen lässt

tagesschau.de: Und was zeichnet eine erfolgreiche Offensive aus?    

Beleskow: Mit einer erfolgreichen Offensive verbindet man zwei Dinge. Erstens, dass bedeutende Gebiete erobert werden. Zweitens, dass bedeutende feindliche Kräfte vernichtet werden. Beides hat Russland nicht geschafft. Daher ist es für die Menschen schwer zu erkennen, woran sie sich bei einer Offensive orientieren. Aber sie hat stattgefunden und sie ist gescheitert.

Dass sie gescheitert ist, lässt sich am besten an den russischen Verlusten ablesen. Denn auf ihrem Höhepunkt haben sie täglich zwischen 1000 und 1100 Menschen verloren. Jetzt sind die Verluste auf 500 bis 600 Menschen pro Tag gesunken. Das bedeutet, dass die Russen nicht mehr genug Menschen haben, um sie so intensiv in den Kampf zu werfen. Ihre Offensive neigt sich also dem Ende zu.

"Bei den Kampfflugzeugen gehen unsere Ressourcen zur Neige"

tagesschau.de: Wenn es um die ukrainische Gegenoffensive geht, dann gibt es immer wieder Forderungen nach F-16. Können Sie erklären, welchen Nutzen diese US-Kampfflugzeuge aus militärischer Sicht haben?

Beleskow: Das Luftverteidigungssystem des Landes, das kritische Einrichtungen abdeckt, besteht aus zwei Elementen: bodengestützten Flugabwehrsystemen unterschiedlicher Reichweite und Leistung - und Kampfflugzeugen, die diejenigen Bereiche abdecken können, die diese Anlagen nicht erreichen. Denn ihre Reichweite beträgt 50 bis 70 Kilometer, in einigen Fällen auch 100 Kilometer.

Es ist nicht möglich, das ganze Land mit Flugabwehrsystemen zu schützen. Erst recht nicht, in der Anzahl, wie wir sie erhalten. Deshalb ist die Situation ganz einfach: Entweder bekommen wir früher oder später F-16 oder der Westen wird sich selbst einmischen müssen, weil die russische Luftwaffe sich ja nicht einfach in Luft auflöst.

Gleichzeitig gehen bei den Kampfflugzeugen unsere Ressourcen zur Neige. Und die Raketenabwehrsysteme sowjetischer Bauart halten auch nicht ewig. Das heißt, auch diese Bestände sind begrenzt. Früher oder später wird diese Entscheidung also getroffen werden müssen. Dass Polen uns entsprechende sowjetische Flugzeuge mit der Zustimmung Deutschlands übergibt und auch die Slowakei Flugzeuge abgibt, bedeutet nicht, dass es eine nachhaltige Lösung gibt. Das ist nur eine Lösung auf Zeit.

"Wenn wir so weit wie möglich schlagen, bricht die Front zusammen"

tagesschau.de: Der Westen geht auf diese Forderungen bisher nicht ein. Auch nicht auf die nach ATACMS. Das sind zwar sogenannte Kurzstreckenraketen. Aber ihre Reichweite beträgt dennoch bis zu 300 Kilometer.

Beleskow: Wenn wir über ATACMS sprechen, ist es sehr einfach. Die moderne Kriegsführung erfordert Präzision, um auch in der Tiefe des Raumes wirken zu können. Das haben wir im zweiten Karabach-Krieg gesehen, als Aserbaidschan nicht nur an der vordersten Verteidigungslinie agierte, sondern auch in der Tiefe des Raums zuschlug.

Wir brauchen das sowohl für erfolgreiche Defensiv-, als auch für erfolgreiche Offensivaktionen. Stellen Sie sich vor, dass 300 Kilometer von den heutigen Frontlinien entfernt alles in Reichweite sein würde. Das bedeutet, dass es möglich wäre, eine ganze Reihe von Zielen zu erreichen, von denen die Fähigkeit Russlands abhängt, die Frontlinie zu halten.

In der Tat hängt die Stabilität der russischen Front von der Tiefe und der Reichweite sowie der Genauigkeit unserer Angriffe ab. Wenn wir so weit wie möglich schlagen, bricht die Front praktisch zusammen. Deshalb ist dieses System so grundlegend wichtig für uns. 

"Wir warten noch auf alles"

tagesschau.de: Im Westen fragen sich viele, wann die angekündigte Offensive der Ukraine beginnt. Können Sie die Faktoren nennen, die für einen erfolgreichen Gegenangriff notwendig sind?

Beleskow: Offensivoperation sind die schwierigsten militärischen Operationen. Denn man muss sozusagen den Widerstand des Feindes überwinden. Und es ist sehr schwierig am Boden zu kämpfen. Selbst ein Marsch von Punkt A nach Punkt B, ohne Widerstand des Feindes, ist eine ziemlich komplexe Aufgabe.

Wir brauchen also Technik. Und diese Technik kommt erst seit relativ kurzer Zeit bei uns an, etwa seit März. Aber wir haben noch immer nicht alles erhalten, was uns versprochen wurde. Weder bei den Panzern, noch bei gepanzerten Kampffahrzeugen, noch bei Artillerie und Munition. Wir warten also noch auf alles.

Außerdem müssen wir bedenken, dass uns das alles erst im Januar 2023 versprochen wurde - erst kürzlich. Der zweite Punkt ist, den Soldaten beizubringen, wie man das alles benutzt. Es muss eine Koordinierung der einzelnen Mannschaften geben. Es ist notwendig, die Leute bis zur Kompanie-, Bataillons- und Brigadeebene zu koordinieren. Wir bereiten uns dort auf etwa zwölf Brigaden vor, mindestens zwei Armeekorps.

"Es braucht Zeit für die Vorbereitung"

tagesschau.de: Das klingt nach komplexen Abstimmungsprozessen.

Beleskow: Das ist eine große Zahl von Menschen und eine große Menge an Ausrüstung, damit sie koordiniert vorgehen können. Als nächstes müssen wir die feindlichen Stellungen auskundschaften, Schwachstellen ausfindig machen, ein Feuersystem entwickeln, um bei der Artillerievorbereitung vorrangige Ziele zu treffen. Dann gilt es, die Verteidigungsanlagen zu durchbrechen.

Nach dem Durchbrechen der Verteidigungsanlagen muss eine durchschlagende mobile Aufklärungsstaffel eingesetzt werden, wie wir es in der Region Charkiw gesehen haben. Wir dürfen das Tempo der Offensive nicht verlangsamen und wir dürfen dem Feind nicht erlauben, sich neu zu formieren. Wir müssen unsere Gegenmaßnahmen durchführen, denn der Feind wird eine Reserve haben, die er versuchen wird zu nutzen. Das müssen wir verhindern.

Wir müssen Gebiete befreien und den Feind entweder vernichten oder ihn zum Rückzug zwingen. Es ist also eine Menge Vorbereitung, Koordination und Synchronisation erforderlich. Es braucht Zeit für die Vorbereitung. Ich verstehe, warum die Menschen auf positive Nachrichten von ukrainischer Seite warten. Aber jetzt ist die wichtigste positive Nachricht, dass die russische Offensive gescheitert ist und zu erheblichen russischen Verlusten geführt hat.

Das Gespräch führte Vassili Golod, ARD Kiew