Ukrainische Soldaten inspizieren die Trümmer einer zerstörten russischen Panzerkolonne auf einer Straße in Butscha.
Interview

Kriegsgräuel in Butscha "Entnazifizierungs-Narrativ wirkt sich aus"

Stand: 04.04.2022 16:36 Uhr

Die Morde von Butscha sind auch eine Folge der Kriegsbegründung Russlands, sagt die Osteuropa-Expertin Margarete Klein. Im Interview erläutert sie, wie sich Butscha einordnet in die Gräuel vorheriger Kriege - und die Brutalitäten des russischen Wehrdienstes.

tagesschau.de: Massaker an der Zivilbevölkerung in besetzten Orten - ist das auch unter dem, was man von russischer Kriegsführung kennt, eine Ausnahme?

Margarete Klein: Manche der Brutalitäten haben wir in den Tschetschenien-Kämpfen gesehen, wo es "Infiltrations-Camps" vor allem des russischen Geheimdienstes gegen damals sogenannte tschetschenische Banditen gab. Manches hat man auch in Syrien gesehen. Die Ereignisse von Butscha reihen sich hier ein. Die Frage ist, ob es sich um eine Entgleisung einzelner Soldaten handelt oder Teil der Kriegsführung ist.

Margarete Klein
Zur Person

Margarete Klein ist die Forschungsgruppenleiterin Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie forscht zur Außen- und Militärpolitik Russlands sowie Moskaus Verhältnis zur NATO und die Entwicklung der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS).

tagesschau.de: Welcher Einschätzung neigen Sie zu?

Klein: Auch wenn Soldaten aus Eigeninteresse an Plünderungen beteiligt waren, passen die Berichte gut zu psychologischer Kriegsführung, die auf die Zermürbung des Widerstandswillens der ukrainischen Zivilbevölkerung und der Streitkräfte setzt. Die Berichte aus Butscha zeigen, dass dort offensichtlich auch gezielt nach Personen gesucht wurde, die 2014 an der sogenannten Anti-Terror-Operation der Ukraine gegen den Aufstand prorussischer Separatisten im Donbass teilgenommen hatten oder die Teil der territorialen Selbstverteidigungskräfte der Ukraine sind - also diejenigen, die die man als Stützen des ukrainischen Staates sieht. Damit versucht man, Schrecken zu verbreiten und zu demoralisieren.

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"Teil der psychologischen Kriegsführung"

tagesschau.de: Was ist über die russischen Streitkräfte in Butscha bekannt? Waren es überwiegend einfache, unerfahrene Soldaten oder waren es überwiegend erfahrene Einheiten? Wir hören ja auch von Plünderungen und Vergewaltigungen.

Klein: Wir wissen zwar, dass verschiedene Einheiten in Butscha eingesetzt wurden, können die Taten aber noch nicht zuordnen, weil dafür noch Informationen fehlen. Es wurden reguläre Soldaten auch aus Einheiten aus dem fernen Osten Russlands eingesetzt, es mögen Soldaten gewesen sein, die gerade erst ihren Wehrdienst hinter sich haben, für die Plünderungen ein Mittel sein könnten, sich zu bereichern. Es gibt zum Beispiel viele Berichte über gestohlene Laptops.

Es wurden aber auch Luftlandeeinheiten eingesetzt - also Elitetruppen, bei den man eher von einem gezielten Vorgehen ausgehen kann. Auch die "Kadyrowzy" wurden eingesetzt, also Kämpfer, die dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow persönlich unterstellt sind. Diese sind für ihre Brutalität berüchtigt; ihr Einsatz ist Teil der psychologischen Kriegsführung. Ihr Einsatz soll die ukrainische Armee und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen.

"Entnazifizierungs-Narrativ wirkt sich aus"

tagesschau.de: Zu Plünderungen kann es auch spontan kommen - ohne das zu entschuldigen. Für das Handeln der Elitetruppen und der "Kadyrowzy" wäre aber die Militärführung direkt verantwortlich.

Klein: Hier wirkt sich das Narrativ von der sogenannten Entnazifizierung der Ukraine aus. Die russischen Soldaten seien gekommen, um die ukrainische Bevölkerung von einem "Nazi-Regime" zu befreien. Nun sind die russischen Streitkräfte in ein Land gekommen, in dem sie nicht freudig als "Befreier" begrüßt werden - also muss das Narrativ angepasst werden. Die "Nazis" seien demnach nicht nur die oberste Führung des Landes, sondern die Nazi-Ideologie sei tiefer in die Bevölkerung eingedrungen. Damit wird das Vorgehen der Armee gewissermaßen gerechtfertigt.

Wie die Erfahrungen der Wehrpflicht die Soldaten prägen

tagesschau.de: Ist bekannt, ob solche Handlungen in der Ausbildung der Soldaten angesprochen werden?

Klein: Dazu ist aus offenen Quellen zu wenig bekannt. Bei den "Kadyrowzy" ist Brutalität ein Teil des Einsatzspektrums. Bei den normalen Streitkräften kennen wir die lange Tradition der Brutalität gegen einfache Wehrpflichtige, wo die jungen Rekruten "entmenschlicht" und von älteren Wehrpflichtigen und Vorgesetzten grausamen, entwürdigenden Strafen unterworfen werden. Man hat zwar in den vergangenen Jahren versucht, diese "Dedowschtschina", also die "Herrschaft der Großväter", einzuschränken. Aber solche Gewalterfahrungen prägen sicher auch für den Umgang mit einem Gegner - seien es nun Soldaten oder Zivilisten.

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tagesschau.de: Können Sie sich vorstellen, dass Teilen der russischen Führung die Meldungen aus Butscha im Sinne einer Demoralisierung oder Einschüchterung recht sind?

Klein: Wenn es Teil von psychologischer Kriegsführung ist, geht es genau darum - einzuschüchtern. Der zweite Aspekt besteht darin, Zweifel im Ausland zu schüren, um dadurch die öffentliche Meinung dort zu spalten und harte Gegenmaßnahmen zu verhindern. Dafür spricht, dass die russische Seite versucht, für die Taten ukrainische Kräfte selbst verantwortlich zu machen, die die  Bilder selbst produziert hätten, um Russlands Streitkräfte zu diskreditieren.

Wendepunkt - für den Westen?

tagesschau.de: Wie wird sich das auf das Kriegsgeschehen auswirken? Wird es die Kampfmoral und den Widerstandswillen der Ukrainer schwächen oder stärken?

Klein: Die Wirkung der Bilder auf westliche Betrachter könnte durchaus einen Wendepunkt markieren, weil sie klar machen, worum es hier geht. Die wenigsten werden weiter das absurde Argument vorbringen können, dass die Ukraine sich ergeben sollen, weil das das Blutvergießen beenden würde. Man sieht jetzt, dass eine Einnahme nicht das Ende der Gewalt bedeuten würde, sondern dass das Ende der militärischen Kämpfe nur eine andere Art von Gewalt mit sich bringt.

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tagesschau.de: Die Meldungen des Wochenendes haben dazu geführt, dass die Forderung nach einem völligen Importstopp von Energieträgern noch energischer erhoben wird. Ist das sinnvoll oder von der russischen Führung schon eingepreist?

Klein: Der Entscheidungsprozess im Kreml ist von außen schwer einsehbar. Wir sehen aber, dass ökonomische Rationalität kaum eine Rolle mehr spielt. Mir scheint, dass wir kurzfristig wenig an den Entscheidungen ändern können, die dort getroffen werden. Mittelfristig können sie aber einen großen Effekt entfalten.

Was der Ukraine helfen würde

tagesschau.de: Auch die Rufe nach der Lieferung nicht nur von defensiven Waffen, sondern auch offensiver Waffen in die Ukraine sind noch einmal lauter geworden. Droht hier nicht die Gefahr, dass die NATO vollends in den Krieg hineingezogen wird?

Klein: Waffenlieferungen alleine machen aus einem keine Kriegspartei. Sie können der Ukraine aber helfen, länger Widerstand zu leisten und am Verhandlungstisch eine starke Ausgangsposition zu erkämpfen. Das wäre bei der Einrichtung einer Flugverbotszone anders, denn diese müsste - auch mit Gewalt - durchgesetzt werden. Das Risiko, dadurch selbst in den Krieg involviert zu werde, wäre sehr hoch.  

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de