Leuchtanzeige an einem Wechselbüro in Istanbul | picture alliance / NurPhoto

Inflation in der Türkei Politische Schlacht um den Lira-Kurs

Stand: 07.01.2022 03:46 Uhr

Kurz vor Weihnachten sackte der Kurs der türkischen Lira massiv ab. Regierungskritiker vermuten, dass der Kurs aus dem Umfeld von Präsident Erdogan manipuliert wurde. Die Opposition fordert Neuwahlen.

Von Karin Senz, ARD-Studio Istanbul

Am 20. Dezember legt die türkische Währung eine regelrechte Achterbahnfahrt hin. Erst stürzt sie tagsüber ab, für einen US-Dollar muss man zwischenzeitlich mehr als 18 Lira zahlen. Dann verkündet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan noch am selben Abend ein Rettungspaket. Die Lira gewinnt die Nacht über wieder. Ein US-Dollar kostet danach gut 13 Lira.

Karin Senz ARD-Studio Istanbul

Der türkischen Opposition kommt das sehr verdächtig vor. "Wir möchten wissen, wer wieviel Devisen verkauft und gekauft hat", sagt der Parteichef der CHP, Kemal Kilicdaroglu. "Wer hat Spekulationsgewinne gemacht? Wer wusste im Vorfeld Bescheid?"

Der Oppositionsführer spricht vom vielleicht größten Diebstahl in der Geschichte des Landes. Pervin Buldan von der pro-kurdischen HDP sieht sogar System dahinter und wirft Erdogan vor: "Es waren ihre eigenen Spekulanten, die den Dollar künstlich aufgepumpt, anschließend verkauft und zu niedrigeren Preisen wieder eingekauft haben."

Spekulanten aus dem Umfeld des Präsidialpalastes?

Diese Spekulanten müssen aus dem Umfeld des Präsidialpalastes in Ankara kommen, sagt auch der Wirtschaftsexperte Mustafa Sönmez. Nur dort habe man rechtzeitig von Erdogans Plänen gewusst. Dabei kritisiert er das Rettungspaket nicht grundsätzlich. Aber Regierungen in einem Rechtsstaat, die ihre Währung aufwerten wollten, würden transparent agieren, so Sönmez. "Sie kündigen so etwas an und stellen ihr Vorhaben in Form eines Entwurfs vor", sagt er. "Dann wäre niemand im Vorteil gewesen. Im Gegenteil: Transparenz hätte dazu geführt, dass die Bürger rechtzeitig Bescheid gewusst und keine Devisen gekauft hätten."

Viele hätten aber versucht, ihre Lira-Ersparnisse an diesem 20. Dezember noch irgendwie zu retten und in US-Dollar oder Euro zu tauschen, als der Kurs schon am Boden lag, sagt Aykut Erdogdu von der oppositionellen CHP. "Massen haben ihre Ersparnisse verloren, nicht wenige haben sich das Leben genommen. Das Volk hatte Erdogan vertraut. Er hatte ja davor gesagt, er werde Zinsen weiter senken. Wichtig sei ihm nur der Export, nicht der Lira-Kurs. Und in derselben Nacht, nach Börsenschluss, holt er dann einen Hasen aus dem Zylinder."

Finanzminister weist Manipulationsvorwürfe zurück

Erdogans Rettungspaket - ein Zaubertrick? Er verspricht unter anderem Sparern an diesem Abend, dass Verluste ausgeglichen würden, wenn die Lira weiter an Wert verliere.

Der türkische Finanzminister Nureddin Nebati wehrt sich gegen all die Manipulationsvorwürfe der Opposition. "Wenn sie so etwas weiter behauptet, dann soll sie das bitte beweisen. In jener Nacht hat niemand eingegriffen", sagt Nebati.

Einen Antrag der Opposition, die Vorgänge am 20. Dezember zu untersuchen, schmettert die Regierungskoalition im Parlament allerdings ab. Dagegen zeigt die türkische Bankenaufsicht regierungskritische Journalisten und Experten an, darunter auch der Wirtschaftsexperte Sönmez. Und Regierungsanhänger behaupten, die Opposition habe den Lira-Kurs vor dem 20. Dezember manipuliert. Sie wolle so vorgezogene Wahlen erzwingen. Schließlich sei die Wirtschaft trotz der Corona-Pandemie gewachsen und die Türkei habe vergangenes Jahr deutlich mehr exportiert.

Sönmez lässt das nicht gelten: "Das war nur durch den immensen Wertverlust der türkischen Lira möglich geworden. Exporteure, die für einen Dollar sieben Lira bekamen, erhielten plötzlich 15 bis 16 Lira für einen Dollar", sagt er. Und: "Das ist alles nicht nachhaltig. Denn sie können ihre Ware nur einmal zu so einem günstigen Preis verkaufen. Danach müssen sie neu produzieren, und dafür müssen sie zum aktuellen Devisenkurs neue Rohstoffe importieren."

Opposition hofft auf Neuwahlen

Importe sind aktuell sehr teuer. Die Krise setzt Erdogan massiv unter Druck. Bei Umfragen nach seiner Popularität vom Dezember kommt er sogar bei regierungsfreundlichen Instituten nur noch auf 30 Prozent. Bei der Präsidentschaftswahl 2018 holte er offiziell über 52 Prozent.

Die CHP wittert ihre Chance, den Präsidenten aus dem Amt zu drängen. Eine neue Regierung werde es trotz der massiven Wirtschaftsprobleme leichter haben, sagt Sönmez. Das habe wenig mit den Strukturen der Wirtschaft zu tun, sondern vielmehr mit Erdogans politischem Ehrgeiz. Für den Machterhalt und seine Wiederwahl forme und lenke Erdogan die Wirtschaft, wie es ihm gerade passt. "Das größte Problem der türkischen Wirtschaft ist das weltweit mangelnde Vertrauen", sagt Sönmez.

Ein Wahlsieg der Opposition würde neues Vertrauen schaffen und somit vieles reparieren, glaubt Sönmez. Bis jetzt aber macht die türkische Regierung keine Anstalten für vorgezogene Wahlen. Dann hätte Erdogan noch bis 2023 Zeit für sein Ziel: Die Türkei soll in der Weltwirtschaft unter die Top 10.

Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 07. Januar 2022 um 05:44 Uhr.