Ein Kind, das in eine schottische Flagge gehüllt ist.
Reportage

Schottland "Schoxit" - oder besser kein Abenteuer?

Stand: 24.04.2021 08:37 Uhr

Der Brexit befeuert schottische Unabhängigkeitsbestrebungen - vor allem bei der Jugend. Doch von einem Bruch mit England müssten viele Unentschlossene überzeugt werden.

Aus dem kleinen Städtchen Coldstream stammt eines der Leibregimenter der Queen. Symbolisch, irgendwie - denn in dem Ort findet sich kaum jemand, der für die schottische Unabhängigkeit vom Königreich kämpfen würde. Im Gegenteil: Die meisten Schotten dort halten die Unabhängigkeit für ein viel zu großes Risiko. Zu eng sei man mit England verflochten, und ein solcher Schritt würde ja eine weitere Grenze nötig machen, quer durch die Insel, sagen die meisten Passanten auf der viel befahrenen Hauptstraße von Coldstream.

Ausgerechnet nach dem Brexit jetzt noch mehr Durcheinander? Trevor Sharpe, der hier einen kleinen Antikshop hat, schüttelt den Kopf. "Die Union mit England hat über 300 Jahre gehalten. Finanziell stehen wir so besser da. Das Chaos nach dem Brexit reicht uns schon. Noch mal so ein Abenteuer braucht hier keiner."

Das Gefühl, Europäer zu sein

Der Brexit aber ist für viele jüngere Schotten genau der Grund, warum sie jetzt leidenschaftlich für den Bruch mit England eintreten. Denn viele Schotten fühlen sich als Europäer und wollen zurück in die EU. Selbst dann, wenn das zu großer wirtschaftlicher Unsicherheit führen könnte.

Graham, Anne und Panda sind junge "Glaswegians", wie sich die Bewohner der Stadt Glasgow nennen. Sie haben ein Kollektiv gegründet, das vor der großen UN-Klimakonferenz in Glasgow im November die Gegend rund um das Konferenz-Center in einen großen Kultur-Spielplatz verwandeln will. Hier sollen lokale Initiativen zum Klimaschutz vorgestellt werden, begleitet von Musik und Streetart.

Sie alle würden diesmal klar für die Unabhängigkeit stimmen. Das Argument, dass Schottland im Verbund mit England sicherer sei und sich alleine nicht finanzieren könnte, lassen sie nicht gelten. "Seit dem Brexit ist für mich alles anders", erklärt Anne, die in der Vergangenheit nicht für die Unabhängigkeit gestimmt hat.

Annette Ditter zusammen mit den "Yes-Bikern".

Auf zwei Rädern für die Unabhängigkeit: Unterwegs in Schottland traf Annette Dittert die "Yes Bikers"

"Wir Schotten sind Europäer und haben nie für den EU-Austritt gestimmt. Im Gegenteil, viele haben beim letzten Referendum 2014 sogar gegen die Unabhängigkeit gestimmt, weil uns damals gesagt wurde, wir könnten sonst unsere EU-Mitgliedschaft verlieren."

Außerdem habe Schottland Wind und Wasser im Überfluss - und die Zukunft gehöre sowieso den erneuerbaren Energien. Deshalb müsse niemand Angst haben, dass ein unabhängiges Schottland nicht auf eigenen Beinen stehen könne. Das sei "scaremongering", Angstmacherei, sagen in Glasgow so gut wie alle jüngeren befragten Schotten.

Es kommt auch auf die Unentschlossenen an

Neben den leidenschaftlichen Gegnern und Befürwortern der Unabhängigkeit sind es vor allem die Unentschlossenen, auf die es ankäme, sollte es tatsächlich zu einem zweiten Referendum kommen. Menschen wie Megan Rowland, die als Wildhüterin in den Highlands lebt. Eine Frau mit zutiefst nüchterner Art, die erklärt, sie brauche sehr viel mehr Information, um sich eine Meinung zu bilden.

"Der Brexit hat so viel Chaos produziert, und wir waren nur 40 Jahre in der EU", erklärt sie, "Schottland und England aber sind seit über 300 Jahren ein Land und dadurch so viel tiefer miteinander verwoben." Noch ein politisches Abenteuer nach dem Brexit brauche sie nicht.

Nicola Sturgeon wirbt vor einer Kamera für ein neues Referendum für die Unabhängigkeit Schottlands

Muss noch Überzeugungsarbeit für ein neues Referendum leisten: Nicola Sturgeon

Ein tiefer Riss

Und so hat der Brexit die Gräben auch in Schottland vertieft, wenn es um die eigene politische Zukunft geht. Die einen wollen den Bruch mit England jetzt umso mehr, für die anderen wäre die schottische Unabhängigkeit ein "Schoxit", ein zweiter Brexit, der noch mehr wirtschaftliche Unsicherheit brächte.

Die Frage bleibt allerdings vorerst eine theoretische: Sollte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon nach einem Wahlsieg am 6. Mai ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten wollen, bräuchte sie dafür die Zustimmung der Londoner Zentralregierung. Und Boris Johnson ist da bislang stur. Mit ihm werde es kein zweites Referendum geben, erklärte er kürzlich.

Ein konstitutionell illegales zweites Referendum aber will Sturgeon bislang nicht. Sollte sie ein überragenden Wahlsieg einfahren, dürfte der Druck auf Johnson aber deutlich steigen. Es wird spannend am 6. Mai. 

Die Weltspiegel-Reportage von Annette Dittert "Freiheit für Schottland" sehen am 24. April um 16.30 Uhr im Ersten - und schon jetzt in der ARD-Mediathek.