Jen Stoltenberg.
Analyse

Russlands Angriff auf die Ukraine Wie Putins Krieg die NATO verändert hat

Stand: 17.02.2023 02:18 Uhr

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die NATO verändert - gezwungenermaßen. Denn Putin und sein Überfall haben die Schwächen des Bündnisses schonungslos offengelegt.

Eine Analyse von Helga Schmidt, Brüssel

Putins Angriff auf die Ukraine hat die Schwächen der NATO offengelegt. Die meisten dieser Schwächen haben die Europäer zu verantworten. Viel zu viele unterschiedliche Waffensysteme, die nicht zusammen funktionieren. Unzählige Panzer, die jahrelang die Statistiken geschmückt haben, jetzt aber gar nicht einsatzfähig sind.

Und noch eine Schwäche hat der Krieg offengelegt: Es gibt nicht genügend Munition in Europa. Die Vorratslager leeren sich, das musste NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in dieser Woche feststellen. Wer heute Munition für schwere Artillerie bestellt, der bekommt sie erst in zwei Jahren geliefert. Es kann auch noch länger dauern, sagt Stoltenberg.

"Der Krieg in der Ukraine verbraucht enorme Mengen von Munition, das dezimiert die Vorräte der Alliierten", täglich werde viel mehr Munition verfeuert, als die Industrie produziere. Der Generalsekretär fügte hinzu, die Rüstungsunternehmen sollten doch bitte in Schichten rund um die Uhr arbeiten, auch nachts.

Paletten mit Munition, Waffen und anderen Ausrüstungsgegenständen für die Ukraine werden von Mitgliedern der U.S. Air Force in ein Flugzeug geladen (Archivbild).

Munitionsfabriken kommen dem Verbrauch der Ukraine kaum hinterher: Die Lieferzeit liegt bei 28 Monaten. mehr

Kaum jemand hielt sich an Vorratsregeln

Wäre die NATO ein Wirtschaftsunternehmen, würde man wohl von einem Offenbarungseid sprechen. Es gab Vorratsregeln der Allianz, bloß hat sich außer den Amerikanern kaum ein Land daran gehalten. Schätzungen zufolge würde die Munition in keinem EU-Land länger als eine Woche ausreichen.

Dabei kam der Angriff vom 24. Februar für die NATO nicht überraschend. Wenige Tage vorher hatte Stoltenberg noch eine letzte Mahnung an Moskau gerichtet. "Es darf hier kein Missverständnis geben", warnte Stoltenberg den Kreml und kündigte an, die NATO werde alles tun, was nötig ist, um das eigene Gebiet zu verteidigen. Es gelte die Beistandsgarantie: Der Angriff auf einen gilt als Angriff auf alle.

Doppelstrategie der NATO im Ukraine-Krieg

Allerdings gilt diese Garantie nur für die eigenen Mitgliedsländer. Für die Ukraine fährt die NATO seit Kriegsbeginn eine Doppelstrategie. Die Ukraine wird massiv mit Waffen unterstützt, aber nicht um jeden Preis. Nicht um den Preis, dass die NATO Kriegspartei wird.

"Diese Strategie ist ganz weitgehend aufgegangen", resümiert Tobias Debiel, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Duisburg-Essen. "Man hat es vermieden, beispielsweise Flugverbotszonen einzurichten, die mit einem unmittelbaren Eingreifen der NATO verbunden wären. Und man ist auch zurückhaltend geblieben bei der Lieferung von Kampfflugzeugen, die in eine völkerrechtliche Grauzone geraten wären."

Boris Pistorius sitzt auf einem "Leopard 2"-Panzer auf dem Truppenübungsplatz Augustdorf.

Länder, die Deutschland Druck bei der Lieferung gemacht hatten, kommen laut Pistorius nicht hinterher. mehr

Die Allianz hat gehalten

Die Strategie hat gehalten, die NATO hat zusammengehalten. Auch wenn einige östliche Mitglieder sich noch mehr Einsatz gegen Russland wünschen, auch wenn die üblichen Verdächtigen wie Erdogan und Orban manchmal aus der Truppe ausscherten. Die Einheit blieb relativ geschlossen. Das hätten viele vor Kriegsbeginn nicht so vorausgesagt.

Amerikas Außenminister Tony Blinken zum Beispiel sagt, er habe die NATO "nie stärker und nie einiger" erlebt, jedenfalls nicht in den vergangenen 30 Jahren, in denen er in der Außen-und Sicherheitspolitik aktiv war.

Rüstungspolitischer Flickenteppich

Europäische Sicherheitsexperten hoffen, dass die neue Einigkeit im Bündnis eine neue Basis bildet, die strukturellen Probleme der Allianz endlich anzugehen. Das Hickhack um gemeinsame Panzerlieferungen, das Desaster mit der knappen Munition - wenn es eine Lehre gibt, so sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius beim NATO-Treffen in Brüssel, dann sei das die Notwendigkeit gemeinsamer Standards für Waffen und Munition in Europa.

Bisher scheiterte das aber fast immer an nationalen Einzelinteressen - an 27 Verteidigungsministern in der EU, die alle gerne ihre nationalen Marken-Panzer, Marken-Haubitzen und Marken-Sturmgewehre bestellen, am liebsten bei den eigenen Rüstungsunternehmen im Land. Funktionierende Kooperationen sind selten, trotz der Programme, die die EU aufgelegt hat. Rüstungspolitisch ist die EU immer noch ein Flickenteppich.

Helga Schmidt, Helga Schmidt, ARD Brüssel, 16.02.2023 18:48 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 17. Februar 2023 um 09:00 Uhr.