
Cherson unter russischer Kontrolle Widerstand durch kleine Gesten
In der von russischen Truppen kontrollierten Stadt Cherson gilt der Rubel. "Russland ist hier für immer" betonen Kreml-treue Politiker. Bewohner sprechen von einem Alptraum, ihr Widerstand zeigt sich in kleinen Gesten.
Über der Stadt Cherson, im Süden der Ukraine, wehen russische Fahnen. Der Rubel wurde eingeführt, die Ländervorwahl geändert. Die Uhren werden auf Moskauer Zeit umgestellt. Geht es nach dem stellvertretenden Leiter der prorussischen Militärverwaltung, Kirill Stremoussow, dann wird der Kreml sehr bald schon ganz den Takt vorgeben - und Cherson werde seinen angestammten Platz einnehmen. "Ich sehe die Region Cherson nicht als Republik, sondern als eine Region innerhalb der Russischen Föderation", sagt er.
Das Wappen aus russischen Zarenzeiten - ein schwarzer Doppeladler auf gelbem Grund - ist bereits zurück. Nun werden russische Pässe verteilt: auf Geheiß des russischen Präsidenten Wladimir Putin im vereinfachten Verfahren.
Mehr als 200 Anträge seien bereits eingegangen. Alles andere als ein Run - aber Stremoussow ist damit zufrieden: Es sei alles nur eine Frage der Zeit, schließlich gehe es nun endlich aufwärts.

Eine Frau mit Kinderwagen geht an einem vermummten russischen Soldaten vorbei. Bild: AP
Fröhliche Bilder im russischen Fernsehen
Russische Kanäle liefern dazu die passenden Bilder: von feiernden Familien am internationalen Kindertag. Von russischen Soldaten in Kampfmontur, die Malbücher verteilen. Von Hilfsaktionen und zufriedenen Anwohnern.
Mit der Wirklichkeit, sagt Svitlana, die mit ihrem neunjährigen Sohn in Cherson lebt, habe das alles wenig zu tun.
Sie haben unseren Kindern die Kindheit gestohlen. Unsere Kinder sind zu Kriegskindern geworden.
Feinde - trotz der Bonbons
Sie bemüht sich, am Telefon die Fassung zu wahren. Die Leitung bricht immer wieder ab. Die Befreier sind für sie Besatzer, Feinde. Auch wenn sie Bonbons an Kinder und SIM-Karten an Erwachsene verteilen.
Cherson sei nicht Mariupol, nicht Butscha. Es habe keine großen Zerstörungen gegeben, sagt Svitlana. "Aber wenn eine Rakete in Richtung Mykolajiw oder Odessa abgeschossen wird, hören wir sie. Mein Ältester wohnt in Odessa. Ich war heute auf der Straße und habe eine Rakete gehört. Ich bin sofort nach Hause gelaufen und habe gesehen, dass in Odessa Luftalarm angekündigt wird. Das ist am schlimmsten."

Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert. Bild: ISW/02.06.2022
"Man kann das Träumen nicht verbieten"
Es gebe keine Sicherheit. Sie seien Geiseln, die mit tatkräftiger Unterstützung des abgesetzten Bürgermeisters versuchen würden, sich selbst zu helfen. "Wir kriegen es hin", sagt Svitlana. "Aber es geht den Älteren und Kleinen sehr, sehr schlecht. Denn alles ist teuer geworden. Wenn man Geld hat, kann man sich mit dem Nötigsten versorgen. Aber wenn man kein Bargeld hat, dann hat man keine große Wahl."
Proteste gibt es dennoch kaum noch. Die Sicherheitsorgane griffen hart durch, sagt Svitlana. Wenn, dann werde eher mit kleinen Gesten Widerstand geleistet. Hier eine ukrainische Flagge, dort ein Boykott russischer Produkte.

Eine Bäckerei in Skadowsk in der Chersoner Oblast - den Fototermin hat die russische Armee organisiert. Bild: EPA
"Russland ist hier für immer"
Es gab und gibt aber auch Sabotageakte in den besetzten Gebieten. Und auch die ukrainische Armee versucht, die russischen Truppen wieder zurückzudrängen. Trotzdem verzeichnet Russland 100 Tage nach Beginn der sogenannten "Spezialoperation" Geländegewinne im Donbass.
Ein Zurück werde es nicht mehr geben, betonen Vertreter der Kreml-Partei "Geeintes Russland" wie Andrej Turtschak immer wieder: "Russland ist hier für immer. Daran sollte keiner zweifeln."
"Davon träumen sie? Na gut, man kann Träumen nicht verbieten", sagt Svitlana müde. Für sie ist und bleibt es etwas anderes: ein nicht enden wollender Alptraum.