Menschen betrachten Wladimir Putin auf Bildschirmen.

Pressefreiheit in Russland "Freundschaft mit der Macht" - oder raus

Stand: 14.12.2022 14:47 Uhr

Der Jahresbericht von Reporter ohne Grenzen zeigt, wie dramatisch es um die Pressefreiheit in Russland steht. Viele unabhängige Journalisten sind deshalb längst weg. Aber das Exil bringt neue Probleme.

"Ich bin müde", lacht Anna. Müde darüber nachzudenken, was sie jetzt sagen darf und was nicht: Krieg, militärische Spezialoperation, Militär, Ukraine? Sie zensiert sich ständig selbst, immer. Es sei, wie auf dünnem Eis zu laufen, erzählt die junge Mutter.

Anna, deren Nachnamen wir aus Sicherheitsgründen nicht nennen, war einst Fernsehmoderatorin in einer Region weit weg von Moskau. Während der Anteil an Werbeeinnahmen im Etat über die Jahre sank, wurde der vom Staat finanzierte Anteil immer wichtiger. So wichtig, dass irgendwann auch die Redakteure den einfachen Weg wählten: den der "Freundschaft mit der Macht", wie Anna meint.

Sie überwarf sich mit dem Sender und beendete ihre Arbeit dort. Heute betreibt sie ihren eigenen YouTube-Kanal mit rund 30.000 Followern und arbeitet zudem für ausländische Medien. Obwohl sie keinen Hehl um ihre Einstellung zum Krieg macht, wie sie es selbst nennt, achtet sie genau darauf, was sie wie wo postet.

Fern von Moskau mehr Spielraum

An Demonstrationen gegen den Krieg hat sie beispielsweise nie teilgenommen. Sie sei als Journalistin nicht akkreditiert, erzählt Anna, dürfe sich bei solchen Veranstaltungen nicht als Presse kenntlich machen und gelte für den Staat damit automatisch als Teilnehmende.

Strafen hat sie bislang keine bekommen. Zum einen wegen ihrer Vorsicht, mutmaßt Anna, zum anderen, weil sie weit weg vom Machtzentrum Moskau arbeite. Hier hätten lokale Sicherheitsbehörden Spielraum und "solange sie nicht die rote Linie überschreite", neben der sie sich nur aufhalte, die sie aber nie übertrete, ließe man sie gewähren. Soll sie sich doch ein bisschen auf Instagram aufregen, sei die Einstellung der Behörden gegen sie.

"262 Medien geschlossen worden"

Tatsächlich scheint die Situation für Journalisten wie Anna seit Februar so schlimm wie noch nie in Russland zu sein. Dmitri Muratow ist einer der wenigen, die ebenfalls geblieben sind. Muratow ist der Chefredakteur der wohl bekanntesten unabhängigen Zeitung Russlands, der "Nowaja Gazeta", und bekam vergangenes Jahr den Friedensnobelpreis verliehen.

262 unabhängige Medien seien geschlossen worden, erklärte Muratow diese Woche auf einer Preisverleihung in Paris, mehr als 300 Journalisten und Aktivisten zu "ausländischen Agenten" erklärt. Das hieße, so der Nobelpreisträger, sie seien im Stil Stalins zu Feinden des Volkes erklärt worden. Journalisten "werden verfolgt, sie werden zur Ausreise gezwungen, Strafverfahren werden eingeleitet".

Safronow unter den aufsehenerregensten Fällen

Und so überrascht es nicht, dass es in dem heute von der Organisation Reporter ohne Grenzen veröffentlichten Jahresbericht auch um die Pressefreiheit in Russland geht. Unter den "aufsehenerregendsten Fällen" 2022 findet sich an erster Stelle Iwan Safronow.

Der Investigativ-Journalist saß rund zwei Jahre in Russland in Untersuchungshaft. Nach monatelangem Prozess wurde er im September zu 22 Jahren in einer Strafkolonie mit harten Haftbedingungen verurteilt. Das Gericht sah es als bewiesen an, dass Safronow Staatsgeheimnisse an westliche Nachrichtendienste durchgestochen habe. Safronows Berufung wurde vergangene Woche von einem Moskauer Gericht abgewiesen.

Flucht ins Exil

Als Putins Russland die Mobilmachung erklärte und begann, ganz normale Bürger zum Militärdienst einzuziehen, wollte Anna, wie viele andere Medienschaffende, eigentlich auch das Land verlassen. Doch dann kam zu viel Arbeit, erzählt sie. Zu viel lief schief bei der Mobilmachung in ihrer Region. Über zwei Monate ist das jetzt her.

Der Sender "Doschd" verließ jedoch nach Beginn der "militärischen Spezialoperation" Russland. Zwar besaß "Doschd" schon lange keine Rundfunklizenz mehr, durfte also nur über das Internet senden, doch im März sperrte die Medienaufsichtsbehörde dann auch noch die Website. "Doschd" und seine Redaktion gingen ins Exil, sendeten seitdem unter anderem auch von Lettland aus.

Doch in Lettland wurde "Doschd" nun auch die Lizenz entzogen. Der Vorwurf der lettischen Aufsichtsbehörde: Der russische Exilsender hätte zu wenig ins Lettische übersetzt und zur Unterstützung der russischen Armee aufgerufen. Die Chefin Natalija Sindejewa entschuldigte sich unter Tränen bei ihren Kollegen.

Alle Erklärungen halfen nichts. "Doschd" habe die innenpolitische Lage in Lettland unterschätzt, meint Kirill Martynow. Er ist Chefredakteur von "Nowaja Gazeta Europe", seine Redaktion teilt sich in Riga ein Gebäude mit "Doschd".

"Auch im Exil nicht zwangsweise willkommen"

Martynow glaubt, dass einige seiner Kollegen, die aus Moskau kamen, die Komplexität der Situation "nicht vollständig verstanden" hätten. Das erzählte er in einem Interview diese Woche gegenüber dem russischen YouTube-Format "Lebendiger Nagel".

Lettland sei einst von der Sowjetunion besetzt worden, erklärte Martynow weiter, und deren Rechtsnachfolger sei jetzt die Russische Föderation. In dieser Situation müsse jeder russische Journalist seine Worte sorgfältig wählen und am besten auch gleich einen Vortrag über "Theorien des Kolonialismus" hören.

Die Journalistin Anna glaubt, dass sie es vielleicht auch deshalb noch nicht weg aus Russland geschafft hat. Denn egal wohin man gehe, auch im Exil sei man nicht zwangsweise willkommen. Im Exil wäre sie "nur irgendeine Russin", sie würde ihre ganze Identität verlieren.

Hier in Russland bist du ein Fremder, und dort bist du auch ein Fremder und auf immer und ewig ein schlechter Russe, ganz egal, wie viel du tust, um diesen verdammten Krieg zu beenden oder etwas dagegen zu unternehmen.

Doch mittlerweile denkt Anna wieder öfter übers Auswandern nach, die "Relocation", wie man in Russland sagt. Grund ist aber nicht ihre Arbeit als Journalistin, sondern vielmehr die Zukunft ihres Sohnes: Denn dem neunjährigen Jungen würden heute ehemalige Militärangehörige in der Schule beibringen, die Waffe in der Hand zu halten. Sie wolle nicht, dass er so aufwächst. Erste Vorbereitungen habe sie bereits getroffen.

Annette Kammerer, Annette Kammerer, ARD Moskau, 14.12.2022 10:07 Uhr