
Putins Appell zur Waffenruhe Kiew wittert "zynische Falle" hinter Feuerpause
Die vom Kreml ab 10 Uhr deutscher Zeit angeordnete Feuerpause zum orthodoxen Weihnachtsfest stößt in der Ukraine auf wenig Begeisterung. Präsident Selenskyj sprach von einem "Deckmantel", auch westliche Politiker reagierten zurückhaltend.
Die von Russlands Präsident Wladimir Putin angeordnete Feuerpause anlässlich des orthodoxen Weihnachtsfests ist nach russischen Angaben in Kraft getreten. Sie gelte entlang der gesamten Front in der Ukraine, meldete das russische Staatsfernsehen.
Vertreter der russischen Besatzungsmacht im Osten der Ukraine erklärten kurz nach Eintreten der Waffenruhe der staatlichen Nachrichtenagentur Tass: "Die ukrainischen Streitkräfte haben genau um 12 Uhr, als die Feuerpause in Kraft getreten ist, Donezk aus Artilleriewaffen beschossen." Wie die russische Seite auf den angeblichen Beschuss reagierte, ist nicht klar.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuvor ablehnend auf die angekündigte Waffenruhe reagiert. In seiner nächtlichen Videoansprache stellte er die Motive der russischen Führung infrage. "Jetzt wollen sie Weihnachten als Deckmantel nutzen, um den Vormarsch unserer Jungs im Donbass für eine Weile zu stoppen und Ausrüstung, Munition und mobilisierte Menschen näher an unsere Positionen zu bringen", sagte er. "Was wird es bringen? Nur einen weiteren Anstieg der Zahl der Verluste."
"Zynische Falle"
Der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak warf Russland Heuchelei vor. Er schrieb auf Twitter, Russland müsse "die besetzten Gebiete verlassen - nur dann wird es eine 'vorübergehende Waffenruhe' geben". Er bezeichnete Putins Appell als "zynische Falle" und eine reine Propagandageste. Im Gegensatz zum russischen Gegner greife die Ukraine kein fremdes Territorium an und töte keine Zivilisten. Das mache nur Russland.
Der Chef des nationalen Sicherheitsrats der Ukraine, Olexij Danilow, schrieb bei Twitter: "Was hat ein Haufen kleiner Kreml-Teufel mit dem christlichen Feiertag Weihnachten zu tun?" Russland töte Kinder, nehme Frauenkliniken unter Beschuss und foltere Häftlinge. Bezüglich der Waffenruhe habe man es mit "Lügen und Heuchelei" zu tun. "Russland versucht mit allen Mitteln, die Intensität der Kämpfe und die Intensität der Angriffe auf seine logistischen Zentren zumindest vorübergehend zu verringern." Kiew werde daher auf die "bewusst manipulativen" Initiativen Moskaus nicht reagieren.
Biden: "Putin versucht sich Luft zu verschaffen"
US-Präsident Joe Biden wollte sich nicht direkt zu Putins Vorstoß äußern, sagte aber, es sei interessant, dass der russische Präsident bereit gewesen sei, zum Weihnachtsfest und zum Jahreswechsel Krankenhäuser, Kindergärten und Kirchen zu bombardieren. "Ich glaube, er versucht, sich etwas Luft zu verschaffen", sagte Biden. Das US-Außenministerium ließ wissen, dass es die Ankündigung Russlands für wenig vertrauenswürdig halte.
EU-Ratschef Charles Michel warf Russland ebenfalls heuchlerisches Verhalten vor. "Ein Rückzug der russischen Truppen ist die einzige ernsthafte Option, um Frieden und Sicherheit wiederherzustellen, schrieb er auf Twitter. UN-Sprecher Stéphane Dujarric begrüßte die Ankündigung. Damit werde aber kein "gerechter Frieden" ersetzt.
Bundesregierung nimmt Ankündigung "zur Kenntnis"
Auch die Bundesregierung reagierte zurückhaltend auf die angekündigte Feuerpause. "Wir haben die Ankündigung zur Kenntnis genommen", sagte ein Regierungssprecher. "Jedes Einstellen der Kampfhandlungen trägt dazu bei, Menschenleben zu retten." Es bleibe dabei, dass Russland seine Truppen vollständig aus der Ukraine abziehen müsse und so diesen Krieg jederzeit beenden kann. "Dazu fordern wir Russland weiter auf."
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schrieb auf Twitter: "Eine sogenannte Feuerpause bringt den Menschen, die unter russischer Besatzung in täglicher Angst leben, weder Freiheit noch Sicherheit." Putin wolle offenbar "den Krieg fortsetzen, nach kurzer Unterbrechung". Wenn Putin Frieden wollte, würde er "seine Soldaten nach Hause holen, und der Krieg wäre vorbei". Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bezeichnete die angekündigte Waffenruhe im Sender RTL als "wenig glaubhaft".
Waffenruhe für 36 Stunden angeordnet
Putin hatte am Donnerstag eine Waffenruhe in der Ukraine während des orthodoxen Weihnachtsfestes angeordnet. Die Feuerpause solle von Freitagmittag bis Samstagabend und damit 36 Stunden dauern. In den Kampfgebieten lebten viele orthodoxe Bürger, denen die Möglichkeit gegeben werden solle, Weihnachten an den Gottesdiensten teilzunehmen, hieß es in der Anweisung Putins. Auch die ukrainische Seite sei aufgefordert, einen Waffenstillstand zu erklären. Die orthodoxen Kirchen in Russland und in der Ukraine feiern die Geburt Jesu Christi traditionell nach dem julianischen Kalender am 7. Januar.
Putin reagierte damit auf einen Appell des 76-jährigen russischen Patriarchen Kirill, der um eine solche Feuerpause während des Weihnachtsfests gebeten hatte. Kirill ist ein vehementer Unterstützer Putins und dessen Politik und predigt gegen Kiew und den Westen.
Russland will ukrainische Angriffe erwidern
Beobachter in Kiew gehen davon aus, dass die Feuerpause den Ukrainerinnen und Ukrainern zwar möglicherweise Angriffe mit Raketen und Drohnen über die Weihnachtstage ersparen könnte. An den Fronten im Osten und Süden des angegriffenen Landes hingegen werde sich die Lage wohl kaum verändern.
Der von Moskau im ostukrainischen Gebiet Donezk eingesetzte Besatzungschef Denis Puschilin erklärte bereits, russische Truppen würden ungeachtet von Putins Befehl auch weiterhin ukrainische Angriffe erwidern. "Die Entscheidung betrifft die Einstellung des initiativen Feuers und der Angriffshandlungen von unserer Seite", schrieb Puschilin auf Telegram. Puschilin fügte hinzu: "Das bedeutet nicht, dass wir nicht auf Provokationen des Gegners antworten werden oder dem Feind auch nur irgendeine Chance geben werden, während dieser Feiertagsstunden seine Positionen an der Frontlinie zu verbessern."