
Polens Selbstverständnis Das neue Zentrum Europas
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Polens internationale Rolle verändert. Lange als Problemfall in der EU kritisiert, sieht man sich in Warschau als neues Zentrum Europas. Diese Einschätzung hat viel mit dem Verhältnis zu Deutschland zu tun.
Anfang Februar ist der General Rajmund Andrzejczak zu Gast im Fernsehen. Die polnische Armee hat keinen gewöhnlichen Sprecher geschickt, sondern den Generalstabschef persönlich. Denn Andrzejczak wird im US-Sender MSNBC interviewt. Sein Publikum: Polens wichtigster Verbündeter, die USA.
Wie man in Polen damit umgehe, dass das Land seit dem russischen Angriff auf die Ukraine für die NATO und die EU so zentral geworden sei, wird er gefragt.
Andrzejczak Antwort: "An jedem einzelnen Tag kann man spüren, wie das Gravitationszentrum aus Deutschland, wo es historisch durch den Kalten Krieg lag, nach Polen wandert, nach Warschau."
Nicht mehr der Problemfall?
Polen, das neue Zentrum Europas - so sieht man es gern in Warschau. Vor allem, da das Land an der Seite Ungarns in den letzten Jahren eher die Rolle des europäischen Problemfalls hatte: sogenannte LGBT-freie Zonen in Polen, die strikte Weigerung, Geflüchtete aufzunehmen und vor allem der Dauerstreit um die Eingriffe der PiS-geführten Regierung in die Unabhängigkeit der Justiz.
Bis heute hält die EU-Kommission deshalb Gelder in Milliardenhöhe zurück. Aber der Ton hat sich gewandelt.
Jetzt bedankt sich EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen mehrfach öffentlich für Polens Aufnahme ukrainischer Geflüchteter, und Premierminister Mateusz Morawiecki erklärt selbstbewusst, wie er sich Polen und die Welt nach dem Krieg in der Ukraine vorstellt:
Polen sei bereit, Mitverantwortung für die Gestaltung der neuen Weltordnung zu tragen, erklärt Morawiecki.
Polen ist bereit, ein Schlüsselelement des postimperialistischen Europas zu werden. Es reicht nicht aus, Russland zu besiegen. Man muss eine Welt aufbauen, in der für den russischen Imperialismus und Kolonialismus, für russische Dominanz kein Platz mehr ist.
Von Deutschland oft übergangen?
Und dieses Selbstbewusstsein hat Substanz. In der polnischen Gesellschaft ist das Bewusstsein tief verankert, dass man in Berlin und Paris lange nicht hören wollte, was in Warschau gedacht und gefürchtet wurde, wenn vor russischer Aggression oder den Nordstream-Pipelines gewarnt wurde: dass die Bundesregierung gern mit Washington, Peking und Moskau gesprochen, die Nachbarn im Osten dabei aber problemlos übergangen hat.
Polen hat derweil massiv in die eigene Rüstung investiert, versteht die USA als einzigen wirklich verlässlichen Partner und sich selbst gemeinsam mit den baltischen Staaten als Bollwerk an der NATO-Ostflanke.
Heute muss Außenministerin Annalena Baerbock bei Besuchen in Warschau um neues Vertrauen werben: "Ich kann nur sagen, bitte vertrauen Sie uns. Ja, wir meinen es ernst. Dieses Mal werden wir jede Ecken des NATO-Territoriums verteidigen."
"Der polnische Moment"
Der frühere deutsche Botschafter in Polen, Rolf Nikel, spricht im Interview mit NTV von einem "polnischen Moment", einer Möglichkeit über die gemeinsame Haltung zum russischen Angriff auch die angespannten deutsch-polnischen Beziehungen neuzustarten.
Umso größer, hört man aus Berlin, war deshalb die Verwunderung, als die polnische Regierung im September mit ihrer Forderung über 1,3 Billionen Euro Reparationszahlungen für den zweiten Weltkrieg scheinbar zur Unzeit einen Konflikt vom Zaun brach.
Aber in Polen ist auch: Wahlkampf. Und die regierende PiS-Partei fährt eine dezidiert deutschlandkritische Kampagne. Seitenhiebe in Richtung Berlin lassen PiS-Politiker ungern aus.
Nachdem Polen wochenlang Druck auf Berlin gemacht hat, Leopard 2-Panzer freizugeben, besucht Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius Anfang Februar Polen. Sein polnischer Amtskollege Mariusz Blaszczak will sich lieber nicht öffentlich mit ihm zeigen. Anschließend sagt Blaszczak aber:
"Polen wird weiter sehr dynamisch sein. Polen ist, war und wird der Motor sein für die Unterstützung der Ukraine und Deutschland ist der Bremser."
Wen ruft das Weiße Haus zuerst an?
Unklug findet das Piotr Buras vom European Council on Foreign Relations. Denn auch wenn man sich das in Warschau anders wünscht, im Ernstfall ruft man im Weißen Haus doch immer noch zuerst Berlin an.
Die Amerikaner halten Deutschland für den Schlüsselpartner, ob es uns gefällt oder nicht. Ich denke, das ist auch ein wichtiges Signal für Polen. Wir sollten überlegen, wie wir die Beziehungen zu Deutschland gestalten wollen, auch im Kontext unserer Beziehungen zu den USA. Das ist ein Problem, das uns schon seit Jahren begleitet.
Aber das Misstrauen gegenüber Deutschland sitzt tief. Bis aus dem neuen polnischen Selbstbewusstsein auch ein neuer, entspannterer Umgang mit Deutschland wird, wird es noch dauern - mindestens bis zu den Wahlen im Spätherbst.