Helfer gehen nach Aufräumarbeiten über die Straßen von Sant'Agata sul Santerno (Italien)
weltspiegel

Hochwasser in Italien Nach der Flut der Kampf gegen den Schlamm

Stand: 04.06.2023 16:25 Uhr

Hochwasser kennt man in Italiens Norden. Aber die Flut vom Mai übertraf alles. Die Aufräumarbeiten dauern noch an. Und über allem steht die Frage: Wie können solche Katastrophen künftig verhindert werden?

In Forlì, einer der besonders betroffenen Städte, wirkt Diego Gottarelli niedergedrückt: Seit Wochen koordiniert er freiwillige Helfer, die Straßenzug für Straßenzug Schlamm aus Kellern schaufeln. Aber es ist nicht die Müdigkeit, die ihm zusetzt, sondern sein Gewissen.

Gottarelli führt das ARD-Team zu einem Bauernhof am Stadtrand. Wegen des etwa 40 Zentimeter tiefen Schlamms ist er nur mit einem Geländewagen zu erreichen. Der Morast bedeckt den Boden des Hofs, die Wiese, die Felder und Weinstöcke ringsum.

Karte: Forlì, Italien

Rund 20 Männer und eine Frau arbeiten hier, schieben mit Schaufeln und Baggern Schlamm zur Seite. Gottarelli steigt aus dem Geländewagen. Der hier lebende Bauer ist gerade nicht da. Seine Wohnung im Erdgeschoss hatten die Wassermassen überflutet, vier Autos, zwei Motorräder, zwei Traktoren stehen mit Schlamm überzogen herum, sie sind unbrauchbar. Im ehemaligen Stall hängen Kleider zum Trocknen.

Dann erzählt Gottarelli, was ihn belastet: Die von ihm koordinierten Helferinnen und Helfer arbeiten erst seit diesem Morgen hier, genau zwei Wochen nach der Überschwemmung. Sie hatten den Hof zuvor schlicht übersehen, die Bitten des Anwohners um Hilfe waren in der Leitstelle untergegangen. Leider passiere auch so etwas bei Katastrophen dieser Größenordnung.

Italien: Lehren aus der Flut

Rüdiger Kronthaler, ARD Rom, Weltspiegel, 04.06.2023 18:30 Uhr

Eine Verkettung, die in die Katastrophe führte

Es kam alles zusammen, damit diese Jahrhundertflut entstehen konnte: Der besonders trockene Winter hatte die lehmigen Böden so verhärtet, dass sie kein Wasser aufnehmen konnten. Dann regnet es Anfang Mai intensiv, die ersten Flüsse treten über die Ufer. Und schließlich ergießt sich innerhalb von 36 Stunden die Regenmenge eines halben Jahres auf die bereits übersättigten Böden.

Die Folge: kleine Flüsse werden zu reißenden Strömen, sie durchbrechen oder überspülen Dämme, und setzten weite Teile des Landes und Städte wie Faenza, Cesena und Forlì unter Wasser. In Ravenna spitzt sich die Situation besonders zu. Um die historische Altstadt zu retten, beschließen die Behörden, das Wasser oberhalb der Stadt gezielt auf Felder abzuleiten.

Nach ersten Schätzungen der Regionalverwaltung werden insgesamt 439.000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche überschwemmt. Die Emilia Romagna gilt als der "Obstgarten" Italiens, die Produktion im Wert von circa 1,5 Milliarden Euro wird zerstört.

Die Region Emilia-Romagna ist bei deutschen Urlaubern darüber hinaus besonders für ihre beliebten Badeorte an der Adria bekannt: Riccione, Rimini, Cesenatico. Bei Ravenna sind nun einige Strände in der Nähe von Flussmündungen geschlossen, weil das schlammige Wasser Kolibakterien ins Meer gespült hat. Die Behörden gehen von einer schnellen Verdünnung aus, bis dahin wird die Wasserqualität täglich geprüft.

Die Sonnenschirme stehen wieder akkurat

Die Strände sind nach den Unwettern heute weitgehend hergerichtet und möbliert: Tausende Obrelloni, die Sonnenschirme, stehen akkurat in 20er-Reihen fast bis ins Wasser hinein. Ähnlich wie bei der optimierten Nutzung der Strände haben die Menschen in der Emilia-Romagna es in der Vergangenheit verstanden, auch im Hinterland möglichst viel aus dem Land herauszuholen.

Die Siedlungen fransen aus, große Industriegebiete säumen die Autobahnen, viele Felder werden intensiv bewirtschaftet, dank des Wassers, das über ein breites Netz an Kanälen verteilt wird. Jeder Quadratmeter Boden hier in der Ebene wirkt erschlossen. Für plötzliche Wassermassen gibt es offensichtlich keinen Platz.

Blick aus der Luft auf ein vom Schlamm begrabenes Gewächshaus in der Emilia-Romagna (Italien)

Das Wasser begrub alles unter sich, es blieb der Schlamm - auch in diesem Gewächshaus in der Emilia-Romagna.

Die Forderungen der Stadtplaner

Die Flächen dürften nicht weiter so intensiv genutzt werden, fordert Raumplanerin Valentina Orioli, Professorin an der Universität Bologna. Aufgrund der Erderwärmung dürfte das nächste heftige Unwetter nicht lange auf sich warten lassen.

Orioli fordert, Teile von Ortschaften aufzugeben oder landwirtschaftliche Gebiete oberhalb von Städten zu natürlichen Überschwemmungsgebieten zu erklären. Dass die Regierung Meloni solche weitgehenden und konflikthaften Pläne angehen wird, ist jedoch nicht zu erwarten.

Jetzt wartet erst einmal viel Arbeit: Die Massen an Müll müssen schleunigst entsorgt werden, der an ihnen haftende Schlamm könnte belastet sein. In den Verbrennungsanlagen fehlt es an Kapazitäten, Parkplätze dienen als provisorische Mülldeponien. 100.000 Tonnen Müll sind durch die Jahrhundertflut angefallen, das ist die durchschnittliche Menge von zehn Monaten.

Hoffen auf den Staat

Auf dem Hof am Rande von Forlì kommt Mino Orioli die Treppen herabgestiegen, der Bauer, der zwei Wochen auf Hilfe gewartet hat. Er wirkt gelassen, fast fröhlich. "Jetzt sind die Helfer ja da", freut er sich. Er konnte die Hunde retten, das sei doch gut, und auch zwei seiner Bienenvölker. Ansonsten ist alles zerstört, keine Versicherung wird das übernehmen.

Der Bauer hoffe auf staatliche Unterstützung. "Warum soll ich weinen, es ist wie es ist", sagt er gefasst. Sein Optimismus wirkt unbezwingbar, angesichts der Jahrhundertflut in der Emilia-Romagna.

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste im Weltspiegel am 04. Juni 2023 um 18:30 Uhr.