Frauen und Kinder, die aus der Ukraine geflohen sind, werden am Grenzübergang Medyka, kurz hinter der ukrainischen Grenze, auf polnischer Seite, von einer freiwilligen Helferin (l) begleitet.
Reportage

Flucht aus der Ukraine "Ich konnte die Panzer nicht mehr zählen"

Stand: 19.04.2022 14:02 Uhr

In Mariupol vergeht seit Beginn des Ukraine-Krieges kaum ein Tag ohne russische Angriffe. Die neunjährige Albina und ihre Familie haben die Stadt deshalb Anfang April verlassen. Die Flucht aus den Augen eines Mädchens.

Alesya und Ania - das sind die beiden neuen Freundinnen von Albina. Kurzer Pony, lange schwarze Haare: Albina ist neun Jahre alt und lebt jetzt mit in einem Flüchtlingsheim in Dnipro. "Wenn ich nachts aufwache, habe ich auf einmal Angst. Vor allem, wenn ich zur Toilette muss, allein. Aber wenn ich dann wieder im Zimmer bei Mama bin und sehe, dass sie bei mir ist, dann habe ich keine Angst mehr", erzählt Albina.

Albina ist aus Mariupol geflohen. Über zerstörte Brücken, kaputte Straßen. Das Auto ging zu Bruch. Und überall russische Soldaten. "Ich habe viele Panzer gesehen, vielleicht so 400? Keine Ahnung, irgendwann konnte ich sie nicht mehr zählen."

"Alle hatten große Angst im Auto"

An jedem Checkpoint der Russen, so erzählt es Albinas Stiefvater, habe Albina tapfer das Fenster aufgekurbelt: Sie ist halb herausgeklettert und hat einfach ihre Hände nach oben gehalten. "Ich habe versucht, irgendwie das Beste aus der Situation zu machen. Das war gar nicht so einfach. Ich hatte so großen Hunger. Und alle hatten so große Angst im Auto." Sie habe dann irgendwann einfach allen Soldaten zugewunken. "Und dann habe ich es geschafft: Ein Russe hat mir zurückgewunken. Er hat sogar gelächelt. So habe ich die Situation dann gerettet für uns."

Hier im Flüchtlingsheim gibt es für sie und ihre Familie endlich wieder genug zu essen. Unterwegs musste Albina viel hungern. Ihre Mutter konnte immerhin noch den kleinen Bruder stillen, sagt Albina. Aber auch sie selbst habe sich viel um ihn gekümmert, er ist ja erst neun Monate alt. Und sie, mit neun Jahren, sei ja sehr viel größer. "Ich habe meinen kleinen Bruder auf den Schoß genommen, mit ihm gespielt. Erst durfte ich noch mit dem Handy spielen, aber dann haben sie es mir weggenommen, weil sie das als Navigationssystem gebraucht haben."

Bleibende Erinnerungen

Viel Gepäck hatte die Familie nicht dabei: kein Platz, keine Zeit. Albina hatte ein paar Bilder zusammengepackt, die sie selbst gemalt hatte, ihr Lieblingskuscheltier, die Ente Lalafan, und ein paar Anziehsachen. "Und ja, das Allerallerwichtigste: Ich habe Tee eingepackt. Das war echt viel wert. Als wir in einem Dorf übernachten mussten, da gab es keinen Tee. Und ich war die Coolste, weil ich Tee hatte."

Wenn Albina an Mariupol denkt, dann erzählt sie nicht von Bomben, nicht von Raketen und auch nicht davon, wie viele Häuser zerstört wurden. Sie hat ihre Heimatstadt noch so in Erinnerung wie vor dem Krieg. Auch wenn ihre Freundin und ihre Familie nicht mehr dort leben, gibt es für Albina einen guten Grund, wieder zurückzuwollen. "Ich würde schon gerne zurück nach Mariupol. Letzten Sommer habe ich bei einem Ausflug einen Frosch gefangen. Ich würde gerne wieder einen finden."

Silke Diettrich, Silke Diettrich, ARD Neu-Delhi, 19.04.2022 13:11 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR Aktuell im Hörfunk am 19. April 2022 um 14:23 Uhr.