
Eingefrorene EU-Gelder Ein Sieg für Europa - und Ungarn
6,3 Milliarden Euro Fördermittel sind eingefroren: Für die harte Kante gegenüber Budapest gibt es große Zustimmung unter europäischen Politikern. Aber auch Ungarn zeigt sich erfreut über die Brüsseler Entscheidung.
In der vergangenen Nacht hat Europa gewonnen. Das ist aus vielen europäischen Hauptstädten zu hören - überraschend auch aus Budapest. Die Europäische Union ist überzeugt, dass sie gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban und seinen De-facto-Erpressungsversuchen so viel Stehvermögen entgegengesetzt hat wie selten zuvor. Müsste sich Orbans Ungarn da nicht eher auf der Verliererseite wähnen?
In der ungarischen Hauptstadt Budapest hört sich das so an: "Diese Debatte endete mit dem Sieg Europas, der Europäischen Union." So interpretiert Gergely Gulyas, Orbans Kanzleramtsminister, das Ergebnis der Nacht und schiebt selbstbewusst nach: "Wir sind auch Mitglieder der Europäischen Union." Man habe immer die Position vertreten, dass man eine Einigung innerhalb eines angemessenen Rahmens erzielen wolle, "auf Basis normaler Kompromisse".
Ein Zugeständnis von 1,2 Milliarden Euro
Zu verlieren ist nicht vorgesehen in Orbans Europapolitik. Aus Sicht seiner Regierung in Budapest hat der Ministerpräsident gewonnen: 1,2 Milliarden Euro werden jetzt "entfrostet" - also ausgezahlt. Sie seien ein Zugeständnis an Ungarn, weil es guten Willen demonstriert habe. Orbans Regierung hat einen 17-Punkte-Plan gegen Korruption und mehr Rechtsstaatlichkeit vorgelegt - so die offizielle Lesart. Allerdings sind die 17 Punkte bislang nur Absichtserklärungen, deshalb bleiben die restlichen 6,3 Milliarden der ursprünglich 7,5 Milliarden Euro noch eingefroren.
De facto sind die 1,2 freigegebenen Milliarden Euro der Preis für die Zustimmung Orbans zur geplanten europäischen Mindestkörperschaftssteuer. Das ist eine globale Mindeststeuer von 15 Prozent für alle Unternehmen, egal, wo sie ihren Sitz haben. Diese für die EU eminent wichtige Regelung hatte Orban bislang blockiert.
Freigabe der Corona-Hilfsgelder
Mit der Aufgabe der Blockade erhält Ungarn auch die 5,8 Milliarden Euro Corona-Hilfsgelder - zumindest theoretisch. Hier war der EU-Hebel größer, denn 70 Prozent der Gelder wären Ende des Jahres verfallen. Das Geld soll erst ausgezahlt werden, wenn 27 Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen sind die Kernpunkte des 17-Punkte-Plans. Dazu gehört eine wirksam arbeitende neue "Integritätsbehörde", die "Task Force" gegen Korruption und vieles mehr. Tibor Navracsics, der für EU-Gelder zuständige Minister Ungarns und Orbans EU-Unterhändler, hatte all das schon vor Tagen versprochen.
Orban hat damit erstmal kein Geld verloren. Es ist Geld, das er dringend braucht und schon beginnt, es auszugeben. Zuletzt hatte er 15 Prozent höhere Renten angekündigt. Für die ungarischen Rentnerinnen und Rentner ist das bitter nötig, denn die Inflationsrate ist auf derzeit 26 Prozent galoppiert. Die Staatsverschuldung hat Rekordwerte erreicht - mehr als sechs Prozent der Wirtschaftsleistung - und der ungarische Forint verliert täglich an Wert. Preise zu deckeln, half zuletzt nicht mehr, auch die Benzinpreisdeckelung musste Orban zurücknehmen. Für den künstlich durch die Regierung niedrig verordneten Preis konnte nicht mal mehr die ungarische Mineralölgesellschaft MOL genügend Benzin einkaufen.
Orban braucht das EU-Geld
Die Gelegenheit, um standhaft zu bleiben, ist scheinbar günstig für die EU. Die weiter eingefrorenen 6,3 Milliarden Euro sind immer noch 55 Prozent des Geldes, das Ungarn bis 2027 aus dem EU-Haushalt beansprucht. Viele Modernisierungsprojekte hängen an diesem Tropf. Gerade erst wurde die Budapester Metrolinie 3 aufwendig saniert - aus bereits bewilligten EU-Geldern.
Orban braucht das EU-Geld, um weiter regieren zu können. Zehntausende Lehrerinnen und Lehrer protestierten zuletzt wieder auf den Straßen. Erstmals nach langer Zeit regt sich wieder ernst zunehmender Widerstand, auch unter Wirtschaftsexperten des Landes. Viele der Rentnerinnen und Rentner könnten sich mit der aktuellen Erhöhung zufrieden geben, andere nicht.
Für Ungarn ist es ein Teil-Sieg, den die Mehrheit der ungarischen Medien schön schreibt. Ungarn ist Teil der EU, oder wie der Kanzleramtsminister Gulyas am Tag danach formuliert: "Gerade in einer Zeit, in der die Wahrung der Europäischen Union besonders wichtig ist", stünde Ungarn an der Seite der EU. Doch es gebe auch Probleme, die Gulyas nicht verschweigt: "In jedem Land gibt es Korruption." Inzwischen ja auch an der Spitze des Europäischen Parlaments.