Menschen warten vor dem LKW einer israelischen Hilfsorganisation im Zeltlager in Kahramanmaras.
Reportage

Nach dem Erdbeben in der Türkei Gestrandet im Zeltlager

Stand: 16.02.2023 11:15 Uhr

Nach dem Erdbeben in der Türkei leben viele Menschen in Zeltlagern - viele wollen weg. Evakuierungszentren sollen das organisieren, doch die Realität vor Ort ist eine andere. Oft sind die Menschen auf sich allein gestellt.

Am Busbahnhof von Kahramanmaras am Stadtrand reiht sich ein Zelt an das Andere. Auf dem zentralen Platz steht ein großer Werbe-Lkw eines bekannten Tee-Herstellers und schenkt kostenlos sein Produkt aus. Gegenüber haben Helfer Paletten aufgestellt als provisorische Absperrung. Dahinter stapeln sich Kartons mit Hilfsgütern. Auf einem anderen Platz verteilt eine israelische Hilfsorganisation Konserven und Süßigkeiten von einem Lastwagen runter.

Immer wieder umarmen sich Helfer und Gestrandete. Zu ihnen gehört auch Tugba. Die 38-Jährige geht mit zweien ihrer vier Töchtern durch das Zeltlager. Es wirkt alles entspannt. Aber zumindest was Tugba angeht, trügt der Schein: "Es gibt keine Hygiene, überall Krankheiten, Viren und Bakterien", sagt sie. "Jetzt soll es am 12. Februar Krätze-Fälle hier gegeben haben. Weil es kein Bad gibt. Es ist nicht sauber. Wir passen auf, aber andere kümmern sich gar nicht."

Menschen warten vor dem LKW einer israelischen Hilfsorganisation im Zeltlager in Kahramanmaras.

Menschen Warten auf Hilfsgüter im Zeltlager in Kahramanmaras.

"Wir müssen hier wegkommen"

Tugba trägt Leggins, ein weites Sweatshirt und Mütze, alles ein bisschen schmutzig. Im Gesicht hat sie einen Ausschlag. Sie will nur weg hier - unbedingt - nach Ankara. Da ist schon ein Mitarbeiter ihres Mannes. Der sagt, es gebe noch Platz. Istanbul kommt für sie nicht in Frage. Das sei auch erdbebengefährdet. Das kann sie ihren vier Töchtern nicht zumuten. Die zucken schon zusammen, wenn der Wind durch die Zeltplane fährt, weil sie denken, es ist wieder ein Erdbeben.

"Unsere Kinder werden psychisch zusammenbrechen, wenn wir hierbleiben. Ihnen würde es dann genau so gehen wie mir", sagt Tugba. "Allein schon wegen ihnen müssen wir hier wegkommen. Ich bin eine Mutter, ich kann die Situation meistens irgendwie schultern. Aber die können das nicht aushalten." Sie weint. Auch einem der Mädchen kullern Tränen über die Wangen. Sie wischt sie sich mit einem Taschentuch ab und gibt auch ihrer Mutter eins.

Suche nach einer Liste

Letzte Woche erklärte der Präsident der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD, Yunus Sezer: "Wir fordern unsere Bürger auf, sich zu den Evakuierungszentren zu begeben und sich da in Listen einzutragen. Die Namen und Ausweisnummern der zur Evakuierung bestimmten Personen werden dann in den entsprechenden Ankunftsstädten den Evakuierungs-Koordinierungsstellen übermittelt. Die Bürger erfahren, in welche Stadt und in welche Unterkunft sie gehen müssen."

Dem Zeltlager von Tugba in Kahramanmaras ist ein solches Evakuierungszentrum angeschlossen. Zumindest steht es so auf der Seite von AFAD. Aber Listen gibt es hier nicht. Also fragt Tugba immer wieder bei der Verwaltung des Zeltlagers nach, wann Busse gehen: Wann genau, und um wieviel Uhr, fragt sie einen freiwilligen Helfer von AFAD. Er muss zugeben, er hat keine Ahnung. Aber wenn er es nicht wisse, wie solle sie es dann mitkriegen, antwortet Tugba. Es gebe Lautsprecherdurchsagen, meint der Mann in der Verwaltung. Tugba erklärt ihm, ihr Zelt sei am anderen Ende des Lagers. Wie solle sie das mitkriegen. Sie bleibt höflich, trotz ihrer Verzweiflung.

Plötzlich gibt es eine Durchsage: Es geht um ein Kind, das seine Eltern verloren hat. Man könne den kleinen Hüsam hier abholen.

Nach einigen Minuten mischt sich eine AFAD-Mitarbeiterin in das Gespräch mit Tugba ein: "Wir hier kümmern uns nur ums Camp. Sie können zum AFAD-Büro. Das ist im städtischen Polizeipräsidium. Da können sie ihnen weiterhelfen." Aber wie soll sie dort hinkommen? Tugba hat kein Auto. Sie ist mit ihrer Familie mehr oder weniger im Zeltlager gefangen.

Trümmer eines Hauses in Kahramanmaras

Völlig zerstörte Häuser in Kahramanmaras

Beim Beben einfach rausgerannt

Und dann kommt es wieder hoch. Sie seien beim Beben einfach rausgerannt, hätten nichts mitnehmen können. Einmal sei sie danach noch in der Stadt gewesen. Soldaten hätten sie gebracht, um Medikamente im Krankenhaus abzuholen. Was sie gesehen hat, war nicht mehr ihre Stadt.

"Hoffentlich werden wir diese Wunden irgendwann heilen können. Das schaffen wir sicher nicht allein, nur gemeinsam. Aber mit Kahramanmaras sind wir fertig." Die Stadt sei ein Trümmerfeld. Sie müsse komplett abgerissen und neu aufgebaut werden, meint die 38-Jährige, aber ohne sie.

Tugba schafft es raus - aber nicht im Bus

Tatsächlich schafft sie es mit ihrer Familie zwei Tage später raus aus dem Zeltlager, aber nicht mit einem offiziellen Evakuierungsbus. Ein Lkw mit Hilfslieferungen aus Ankara nimmt sie auf dem Rückweg mit. Und sie haben auch schon eine Wohnung gefunden - über Freunde. Für sie, ihren Mann und ihre vier Mädchen kann ein neues Leben anfangen - weit weg von der Hoffnungslosigkeit in Kahramanmaras.

Karin Senz, Karin Senz, ARD Istanbul, 16.02.2023 09:32 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 16. Februar 2023 um 07:09 Uhr.