Ein Helfer des Technisches Hilfswerks (THW) steht im Erdbebengebiet der türkischen Provinz Hatay. (Aufnahme vom 9. Februar 2023) | dpa

Sicherheitslage in Erdbebenregion Deutsche Hilfsteams unterbrechen Einsatz

Stand: 11.02.2023 15:34 Uhr

Deutsche und österreichische Retter haben ihre Erdbebenhilfe in der Türkei wegen Sicherheitsbedenken ausgesetzt. Es gebe Berichte über Auseinandersetzungen, wie das THW mitteilte. Die Zahl der Todesopfer stieg derweil auf über 28.000.

Das Technische Hilfswerk (THW) und die Hilfsorganisation I.S.A.R Germany unterbrechen aus Angst vor möglichen Tumulten ihre Rettungsarbeiten im Erdbebengebiet in der Türkei. In den vergangenen Stunden habe sich nach verschiedenen Informationen die Sicherheitslage in der Region Hatay geändert, teilten die Organisationen mit. "Es gibt zunehmend Berichte über Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppierungen, auch Schüsse sollen gefallen sein", hieß es vom THW.

Such- und Rettungsteams bleiben demnach vorerst im gemeinsamen Basislager in der Stadt Kirikhan. Wenn es einen konkreten Hinweis gebe, dass man jemand lebend retten könne, werde man aber dennoch hinausfahren, sagte die THW-Sprecherin Katharina Garrecht vor Ort. "Unsere Einsatzkräfte haben von den Tumulten bisher nichts mitbekommen", teilte das THW mit. Ein I.S.A.R-Sprecher erklärte: "Nach unseren Informationen richten sich die Aggressionen nicht gegen deutsche Helfer." Es habe bisher keine Bedrohungen gegeben.

Karte: Region Hatay, Türkei

I.S.A.R: Trauer weicht langsam der Wut

Bei Katastrophen wie etwa einem Erdbeben gebe es erfahrungsgemäß verschiedene Phasen, teilte der I.S.A.R.-Sprecher weiter mit. "Derzeit sind wir in jener Phase, in der die Hoffnung auf Überlebende unter den Trümmern immer geringer wird. Aus diesem Grund schlägt diese bisweilen bei den Menschen in tiefe Trauer und manchmal in Wut über ihre persönlichen Verluste um." Hinzu kämen Schwierigkeiten bei Wasser- und Nahrungsmittelversorgung, die die Betroffenen belasteten und zum Teil frustrierten. I.S.A.R-Einsatzleiter Steven Bayer sagte: "Es ist festzustellen, dass die Trauer langsam der Wut weicht."

Laut THW handelten die deutschen Helfer in Abstimmung mit dem türkischen Katastrophenschutz Afad. Sobald dieser die Lage als sicher einstufe, werde man die Arbeit wieder aufnehmen.

Zuvor hatten Soldatinnen und Soldaten einer Katastrophenhilfseinheit des österreichischen Militärs ihre Rettungsarbeiten in der Provinz Hatay zeitweise eingestellt. "Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein", sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis vom österreichischen Bundesheer der Nachrichtenagentur APA. Inzwischen nahmen die Retter ihre Arbeit unter dem Schutz des türkischen Militärs aber wieder auf.

Mehr als 28.000 Tote in Syrien und Türkei

Die Zahl der bestätigten Toten ist derweil auf mehr als 28.000 gestiegen. Der türkische Vize-Präsident Fuat Oktay sagte laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in der Nacht zu Sonntag, in der Türkei seien mindestens 24.617 Menschen ums Leben gekommen. Aus Syrien wurden zuletzt mehr als 3500 Tote gemeldet.

Da die Vermisstenzahlen noch immer sehr hoch sind, ist zu befürchten, dass die Opferzahlen noch drastisch steigen. Es werden aber auch noch Überlebende geborgen: In der türkischen Stadt Kahramanmaras wurde ein neun Jahre alter Junge nach rund 120 Stunden aus einem eingestürzten Haus gerettet, wie die israelische Armee mitteilte. In der Provinz Hatay konnte ein zwei Monate alter Säugling laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu nach 128 Stunden geborgen werden. In der Stadt Adiyaman wurde ein Ehepaar sogar nach 129 Stunden befreit.

Unterdessen wurde bekannt, dass eine Frau, die am Freitag nach etwa 100 Stunden unter Trümmern gefunden worden war, im Krankenhaus gestorben ist. Das meldete WDR-Reporter Jens Eberl auf Twitter.

WHO fordert Ausweitung der Syrien-Hilfe

Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss die Hilfe für die Erdbebenopfer in Syrien deutlich ausgeweitet werden. "Wir müssen mit größerer Dringlichkeit und in größerem Umfang handeln und uns besser organisieren", sagte Richard Brennan, der WHO-Nothilfekoordinator für die Region Östliches Mittelmeer.

Die Toten- und Verletztenzahlen seien immens, was aber oft vernachlässigt werde, seien die vielen Obdachlosen. Allein in Aleppo im von der Regierung kontrollierten Teil Nordwestsyriens haben nach ersten Schätzungen rund 200.000 Menschen das Dach über dem Kopf verloren, in der Hafenstadt Latakia weitere 140.000, sagte die WHO-Vertreterin in Syrien, Iman Shankiti. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) schätzt, dass bis zu 5,3 Millionen Menschen in Syrien durch das Beben obdachlos geworden sind.

Der WHO-Chef, Tedros Adhanom Ghebreyesus, befindet sich bereits selbst vor Ort. Er landete am Mittag am Flughafen der besonders schwer getroffenen Stadt Aleppo, wie die Staatsagentur Sana meldete. Demnach will er nun Krankenhäuser und Notunterkünfte besuchen, um sich ein Bild der Lage zu machen. Er habe zudem 35 Tonnen medizinischer Ausrüstung für die Erdbebenopfer mitgebracht.

Türkei öffnet Grenzübergang zu Armenien

Für eine bessere Versorgung der Betroffenen öffnete die Türkei einen Grenzübergang zu Armenien für Hilfslieferungen - trotz einer tiefen Feindschaft zum Nachbarland. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, passierten fünf Lastwagen mit humanitärer Hilfe einen Grenzposten in der türkischen Provinz Igdir. Zuletzt sei das 1988 nach einem Beben in der Ex-Sowjetrepublik Armenien möglich gewesen.

Rund 160.000 Such- und Rettungskräfte sind laut den türkischen Behörden im Einsatz. Aus dem Ausland seien mehr als 7700 Helfer ins Erdbebengebiet geschickt worden.

Zwölf Festnahmen in der Türkei

In der Türkei kam es außerdem zu mehreren Festnahmen. So hat die Polizei nach dem Einsturz Tausender Gebäude rund zwölf mutmaßliche Verantwortliche festgenommen. Dazu zählten mehrere Bauunternehmer aus den Provinzen Gaziantep und Sanliurfa, wie die türkische Nachrichtenagentur DHA berichtete.

Nach Angaben der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu erließ der Staatsanwalt der ebenfalls von dem Beben betroffenen Provinz Diyarbakir weitere 29 Haftbefehle. Auch in anderen Provinzen wurden Ermittlungen eingeleitet.

Viele Menschen machen die schlechte Bauqualität für den Einsturz von Gebäuden in den türkischen Provinzen verantwortlich. Das türkische Justizministerium wies die Staatsanwaltschaft in den zehn betroffenen Provinzen an, spezielle Ämter zur Untersuchung von "Vergehen in Verbindung mit dem Erdbeben" einzurichten.

Über dieses Thema berichtete am 11. Februar 2023 Deutschlandfunk um 15:00 Uhr in den Nachrichten und BR24 um 15:01 Uhr.