
Russischer Rückzug aus Cherson Ein Etappensieg für die Ukraine?
Russland will seine Truppen vom Westufer des Dnipro bei Cherson zurückziehen. Allein die Ankündigung ist ein herber Rückschlag für Putin. Die ukrainische Führung reagiert zurückhaltend: Sie will Taten sehen.
Die Ankündigung aus Moskau kam nicht wirklich überraschend: Seit Tagen gab es Anzeichen, nach denen ein Rückzug aus der von Russland besetzten Region Cherson im Süden der Ukraine bevorstehen könnte. Doch in der Ukraine mochte kaum jemand daran glauben, dass Kremlchef Wladimir Putin die Stadt kampflos räumen lassen würde. Cherson hat eine hohe strategische Bedeutung: Die Stadt ist das Tor nach Odessa, mit dessen Einnahme die Ukraine praktisch vom Zugang zum Schwarzen Meer abgeschnitten wäre.
Doch an weitere Eroberungen Richtung Süden ist für die russische Armee erst einmal nicht zu denken, im Gegenteil: Rückzug ist angesagt. "Langsam arbeiten wir uns voran, Schritt für Schritt sichern wir unsere Positionen", sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Das Vorrücken solle bei den ukrainischen Truppen "so wenig Verluste wie möglich" verursachen. Befürchtet wird, dass die Streitkräfte in vormals von Russland besetzten Gegenden Sprengfallen oder verminte Geländeabschnitte vorfinden.
Ukraine meldet weitere Eroberungen
Die gleiche Vorsicht zeigt auch Oleksij Gromow vom Generalstab der ukrainischen Armee heute: Er gibt weder eine Bestätigung noch ein Dementi für den Truppenabzug. Jeder Abzug sei aber allein Folge der ukrainischen Angriffe: "Wir haben die Logistik- und Kommandosysteme des Feindes zerstört - deshalb kann der Feind nur fliehen." Zwölf Siedlungen seien allein gestern von der ukrainischen Armee erobert worden.
Die Ukrainer befürchten, dass Tausende russische Soldaten vom Westufer des Dnipro nun an die Frontabschnitte im Osten verlegt werden könnten, die teilweise schwer umkämpft sind - darunter die Kleinstadt Bachmut bei Donezk. Sie könnten dort die russischen Einheiten verstärken und für die Ukraine neue Probleme schaffen.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Insgesamt 200.000 Opfer?
Aus Kreisen des Militärs heißt es, der Rückzug bei Cherson könne eine Atempause für Russland schaffen und die Front auf Seiten des Gegners stabilisieren, bis neue Rekruten und Mobilisierte an der Waffe ausgebildet seien. Die Zeit könne auch genutzt werden, um das Waffenarsenal der russischen Armee wieder aufzufüllen. Es fehlten unter anderem Raketen.
Die US-Zeitung "Washington Post" zitierte den ranghöchsten US-General, Mark A. Milley, mit der Schätzung, dass seit Beginn des Krieges auf beiden Seiten insgesamt etwa 200.000 Soldaten getötet oder verwundet wurden. Es sind die höchsten Opferzahlen, die bislang von westlicher Seite veröffentlicht wurden. Offizielle Statistiken aus Moskau oder Kiew gibt es dazu nicht. Die Zahl der getöteten Zivilisten schätzt Milley auf 40.000. Beide Seiten müssten sich darüber im Klaren sein, dass ein Sieg "womöglich nicht durch militärische Mittel zu erreichen ist und man andere Mittel braucht", sagte er.
Moskau und Kiew haben erklärt, sie seien zu Verhandlungen bereit - allerdings jeweils zu ihren eigenen Bedingungen. Bislang scheint eine Verständigung aber noch in weiter Ferne.