
Ein Jahr nach den Protesten in Belarus Nichts ist vergessen
Die Proteste gegen die vermeintliche Wiederwahl von Langzeitherrscher Lukaschenko vor einem Jahr haben Belarus verändert. Das Regime führt einen andauernden Kampf gegen das eigene Volk. Bis heute.
Auf den Straßen der belarusischen Hauptstadt sind die Rufe nach Veränderungen verstummt. Die vom Westen gesteuerte Revolution sei gescheitert, betont Machthaber Alexander Lukaschenko. Die Zeit der Proteste: ein für alle Mal vorbei.
"Die Säuberung läuft. Denken Sie, dass das einfach ist?! Tausende arbeiten für die anderen. Leute von uns, deren Gehirne abgestellt und für fremdes Geld gewaschen worden sind", behauptet der Herrscher.
Das Regime geht jeden vor, der nicht auf Staatslinie ist. Rund 4.700 Strafverfahren hat die Justiz bereits angestrengt. Und täglich kommen neue dazu. Über 600 politische Gefangene sitzen bereits in Gefängnissen und Straflagern. "Das Land verwandelt sich in ein großes KZ", sagt der unabhängige belarusische Politologe Valerij Karbalewitsch.
"Ein völlig anderes Niveau"
Über 50 nicht-staatliche Organisationen wurden in den vergangenen Wochen verboten. Lokale Bürgerinitiativen ebenso wie namhafte Menschenrechtsorganisationen. Kritische Medien haben ihre Lizenzen verloren. Internetplattformen wurden als extremistisch eingestuft. Die Gesetzgebung wurde verschärft.
Schon das Zeigen der Farben der Demokratiebewegung, weiß-rot-weiß, ist ein Risiko. Anders als noch im Winter trauen sich selbst kleinere Gruppen nicht mehr, in Hinterhöfen und Vierteln zu demonstrieren. Aus gutem Grund, wie Karbalewitsch erklärt.
"Wenn Lukaschenko vergangenes Jahr seine Gegner noch beschuldigte, Banditen, Verbrecher, Alkoholiker, Prostituierte und Drogensüchtige zu sein, dann wirft er ihnen jetzt vor, Extremisten, Terroristen, Faschisten, Nazis zu sein. Das ist ein völlig anderes Niveau" ,so der Politologe.
Im Exil nicht mehr sicher
Vor Gericht werden Exempel statuiert. Auch an jenen, die es im vergangenen Jahr gewagt haben, Lukaschenko politisch herauszufordern. Viktor Babariko, der bei der Präsidentschaftswahl hätte antreten wollen, wurde zu 14 Jahren Straflager verurteilt. Seiner Wahlkampfleiterin Maria Kolesnikowa, die später die Massenproteste mit anführte, drohen 12 Jahre Haft. Wegen des Versuchs, illegal die Macht zu ergreifen.
Der Schlachtruf der Demokratiebewegung - "Lebe Belarus" - , der über Monate bei den Massenprotesten überall im Land erschallte, ist inzwischen nur noch im Exil zu hören. In Litauen, in Polen, in der Ukraine. In Ländern, die jene aufgenommen haben, die vor dem Regime geflohen sind.
Nach dem gewaltsamen Tod des belarusischen Aktivisten Witaly Schischow in der vergangenen Woche in Kiew fühlen sich viele aber auch im Exil nicht mehr sicher. Es könne, klagt Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, jeden treffen.
Nichts ist vergessen
Lukaschenko hat es geschafft, an der Macht zu bleiben. Sanktionen fürchtet er nicht. Er verlässt sich auf die finanziellen und wirtschaftlichen Hilfen Russlands. Und auf seinen Sicherheitsapparat. Die Unterstützung einer breiten Mehrheit des Volkes aber hat er unwiderruflich verloren.
Denn nichts ist vergessen. Nichts ist vergeben. Nicht die Toten, nicht die Folteropfer, die Inhaftierten, diejenigen, die ihre Arbeit oder ihren Studienplatz verloren haben oder von ihrer spärlichen Rente hohe Geldstrafen zahlen mussten, weil sie friedlich für freie und faire Wahlen, für Veränderungen auf die Straße gingen.