Flucht und Vertreibung aus Nazi-Deutschland "Warum hasst man die Juden so?"

Stand: 06.05.2008 12:39 Uhr

Als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, sahen - wenn auch nur wenige - Juden das Unheil der kommenden Jahre voraus. Neben den USA wurde Argentinien zum Fluchtziel. Auch Käthe Blum wanderte nach Südamerika aus - und von dort nach Israel.

Jüdische Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in England (um 1938).

Heimatlos und entwurzelt: Tausende Juden sahen das Unheil voraus und flohen aus Nazi-Deutschland - wie diese Flüchtlingskinder in England (um 1938).

Von Clemens Verenkotte, ARD-Hörfunkstudio Tel Aviv

Ruhig und beschaulich ist die Jabotinsky-Straße in Nahariya. Mehrstöckige Wohnhäuser wechseln sich ab mit ehemaligen Hotels, die wegen zurückgehender Touristenzahlen in Altersheime umgewandelt worden sind. An der Fassade des früheren Hotels Eden prangen sogar noch fünf türkisfarbene Sterne, die von der Qualität des Hauses Zeugnis geben.

Hier wohnt seit acht Jahren Käthe Blum, eine 88-jährige Dame. Die lebhafte weißhaarige Frau wurde im Münsterland geboren, der Vater war Viehhändler. Sie konnte als heranwachsendes Mädchen mit ihren Eltern und beiden Brüder 1935 aus Nazi-Deutschland nach Argentinien fliehen. Dort lebte sie unter zunächst härtesten Bedingungen in landwirtschaftlichen Kooperative weit von Buenos Aires entfernt in der Wildnis.

Später heiratete sie, zog ihre drei Kinder groß und folgte im Jahr 2000 ihrem einzigen Sohn nach Nahariya in Israel. Warum? "Die Juden haben wenigstens ein Land, wo sie bleiben können, wenn auch Krieg mit den Arabern ist", sagte Blum. Und stellt die bange Frage: "Sehen Sie, warum kann da kein Frieden sein, warum nicht? Dann wäre es besser."

Ein Leben "wie auf dem Pulverfass"

Wir sitzen im Speisesaal im Keller des Altenheims. Die mit weiß-rot karierten Decken überzogenen Tische sind schon hergerichtet für das Mittagessen. Viel Kontakt habe sie zu den überwiegend aus Argentinien stammenden Heimbewohnern nicht, sagt Blum. Morgens gehe sie trotz ihrer Gehbehinderung immer spazieren, zwei Stunden lang. Nachmittags beschäftige sie sich mit Strickarbeiten - Babysocken, die an eine Kindereinrichtung verschenkt würden.

Im Sommer 2006 erlebte Käthe Blum den Libanon-Krieg, als in Nahariya Katjuscha-Raketen der Hisbollah einschlugen. Überwiegend im Keller. "Die Leute leben hier wie auf einem Pulverfass," sagt sie jetzt. "Einen Krieg habe ich noch mitgemacht, den letzten, da waren wir hier unten drin. Es ist kein ruhiges Land und ich weiß nicht, ob es jemals ruhig wird. Ich weiß nicht, ob sie sich jemals verstehen werden."

"Wir können nicht mehr mit dir auf die Straße gehen"

Es ist eine lange Geschichte, die sie erzählen will. Die Geschichte von einer glücklichen, behüteten Kindheit, von liebevollen Eltern, von ihrer Heimat im Münsterland. Von einer Welt, die mit der Machtübernahme Hitlers jäh auseinanderbrach: "Wir können nicht mehr mit dir zusammen auf der Straße gehen," hörte die junge Gymnastin plötzlich von ihren Mitschülerinnen. 1935 rät der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde ihrer Stadt ihren Eltern, ein Angebot der vom deutschen Bankier Baron Hirsch gegründeten "Jewish Colonization Association" anzunehmen und im tiefen Süden Argentiniens einer frisch errichteten landwirtschaftlichen Kooperative beizutreten. Von Hamburg geht die Schiffsreise nach Buenos Aires, und mit dem Zug weitere 700 Kilometer ins Landesinnere - bis in die Einöde.

"Mein Vater war damals schon um die sechzig, meine Brüder waren jung," erinnert sich Blum. "Aber auch mein Vater musste um zwölf Uhr mittags in der Gluthitze Bäume roden. Es waren schwere Zeiten. Mutter hat immer geweint. Sie war nie zufrieden, war dieses Leben nicht gewöhnt. Einmal war ein Administrator da und hat gesagt: 'Gehen Sie wieder nach Deutschland zurück!’" Aber Käthe Blum blieb - und ist ihrem Gastland dankbar: "Argentinien hat wenigstens die Türen aufgemacht, hat uns das Leben gerettet. Sonst würde ich nicht heute mit Ihnen hier sitzen, sonst hätte man uns im Konzentrationslager umgebracht. Genau wie die anderen."    

Clemens Verenkotte, C. Verenkotte, ARD Naharija, 05.05.2008 16:24 Uhr

Schmerzliches Heimweh bis heute

Oft müsse sie an ihre Kindheit denken, an die schöne Zeit im Münsterland der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, sagt Blum. Sie wisse bis heute noch ganz genau, wie der Marktplatz, ihre Schule, ihr Elternhaus ausgesehen haben: "Es ist sehr schlimm, ich wünsche keinem, seine Heimat zu verlassen. Wo jemand geboren ist, da sind die Wurzeln. Und die bleiben", sagt sie. Und fragt: "Wie konnte es so weit kommen in Deutschland? Ein Land mit hoher Kultur! Warum hasst man die Juden so? Können Sie mir eine Antwort darauf geben?"

Mit ihrer Gehhilfe, die sie vor sich herschiebt, begleitet die 88-Jährige ihren Besuch noch bis zum Auto - sie habe sich sehr über die Visite gefreut, und habe dabei vieles erzählt, was sie sonst kaum jemanden anvertraut habe, sagt sie. Dann spricht sie noch einen Abschiedssegen und bewegt sich mühsam wieder zurück in ihr Wohnheim.