
75 Jahre "Chinesenaktion" der Gestapo Das Ende von Hamburgs Chinatown
Stand: 13.05.2019 05:30 Uhr
In den 1940er-Jahren gab es in Hamburg ein lebendiges Chinesenviertel - bis zu einer brutalen Razzia der Gestapo im Jahr 1944. Einziges Überbleibsel ist die "Hong-Kong"-Bar in St. Pauli.
Von Barbara Jung und Simona Dürnberg, NDR
Samstagnachmittag. Strahlender Sonnenschein. Doch davon bekommt Marietta Solty in ihrer schummerigen "Hong-Kong"-Bar nichts mit. Die Kneipe unweit der Hamburger Reeperbahn ist gut gefüllt, der Alkoholpegel bei den Gästen ist hoch. Ruhig aber bestimmt managt die 77-Jährige die Wünsche , während sie Schwarz-Weiß-Fotos und vergilbte Dokumente auf dem Tresen ausbreitet. "Das sind mein Vater und ich auf einem Pass", sagt Solty. Ein gelbes Dokument mit chinesischen Schriftzeichen, darauf ein Stempel: "Hamburg."
75 Jahre "Chinesenaktion" der Gestapo
tagesthemen 22:45 Uhr, 12.05.2019, Barbara Jung, Simona Dürnberg, NDR
Mariettas Vater, der Kantonese Chong Tin Lam, war 1926 als Seemann in die Hansestadt gekommen - wie Hunderte andere Chinesen auch. Sie ließen sich unweit des Hamburger Hafens in St. Pauli nieder, eröffneten Restaurants, Geschäfte, Wäschereien. Ein kleines Chinatown entstand.
Verfolgung der Chinesen nach Kriegserklärung
Den Hamburger Behörden jedoch waren die Männer aus Asien ein Dorn im Auge. Sie vermuteten Opiumhandel und zwielichtige Geschäfte, meist zu Unrecht. Nach der Kriegserklärung Chinas an Nazi-Deutschland 1941 nahm die Verfolgung der Chinesen ein bedrohliches Ausmaß an.
Dass sich deutsche Frauen auf chinesische Männer einließen und mit ihnen Kinder bekamen, habe schließlich die nationalsozialistische Rassenpolitik auf den Plan gerufen, erzählt der Hamburger Historiker Lars Amenda. Die gemeinsamen Kinder galten als "Bastarde", da sie nicht "arisch" waren.
Ohne Schutz im Bombenkrieg
So erging es auch Marietta Solty. Ihre Geburt im Jahr 1942 fiel in die Zeit des Bombenkriegs. Bei den Angriffen durften die Chinesen nicht in die Bunker. Sie mussten im Eingang bleiben. Für sie als Kind sei das wie "Weihnachten" gewesen, sagt Solty. Es habe immer "so schön bunt geflimmert".
Ihrem Vater war die Gefahr weit mehr bewusst. Wie viele andere Familien brachte er seine Tochter raus aus der Stadt, nach Heidelberg. Und ersparte ihr damit womöglich viel Leid.
Vorwurf: Feindbegünstigung
Am 13. Mai 1944 eskalierte die Verfolgung in der sogenannten "Chinesenaktion". 200 Beamte der damaligen Polizei und der Gestapo stürmten am frühen Morgen die Chinatown. Sie verhafteten rund 130 Chinesen. Der Vorwurf lautete Feindbegünstigung.
Unter den Verhafteten war auch Chong Tin Lam. Er wurde wie viele andere in ein Arbeitserziehungslager gesteckt und misshandelt. Ihr Vater sei danach nicht mehr derselbe gewesen, sagt Marietta: "Früher war er lebenslustig und aufgeschlossen, jetzt zog er sich vollkommen zurück, traf sich mit niemandem mehr."
Ein zweites Mal gedemütigt
Eine Entschädigung oder Wiedergutmachung für die Zeit in Haft erhielt Chong Tin Lam nie, auch wenn er jahrelang dafür gekämpft hatte. Die"Chinesenaktion" wurde wie ein gewöhnlicher polizeilicher Vorgang behandelt und nicht als rassistisch motiviert anerkannt.
Darin sieht Historiker Amenda einen Fehler: "Anhand der Dokumente, die überliefert sind, lässt sich ganz klar erkennen, dass sich die Gestapo-Beamten als eine Art Rassekrieger empfunden haben und die NS-Rassenpolitik auch gegenüber den Chinesen durchsetzen wollten." Die "Chinesenaktion" nicht als Verfolgung anzuerkennen, habe die Opfer ein zweites Mal gedemütigt.
Wütend über wiederaufkeimenden Rassismus
Mindestens 17 Chinesen starben an den Folgen des Gestapo-Terrors und der Zwangsarbeit in Arbeitslagern. Die Überlebenden kehrten Deutschland nach Kriegsende mehrheitlich den Rücken. Chong Tin Lam blieb und baute die "Hong-Kong"-Bar wieder auf. Seit seinem Tod 1983 führt Tochter Marietta die Kneipe weiter. Heute ist sie mit 77 eine der ältesten Kneipenchefinnen auf St. Pauli.
Dass ihr Vater keine Wiedergutmachung erhalten hat, damit hat sie sich mittlerweile abgefunden. Aber etwas anderes macht sie wütend: der wiederaufkeimende Rassismus. In ihrer Bar sei sie ganz nah dran, habe den Eindruck, dass es immer schlimmer werde: "Die Menschen haben nichts dazu gelernt, ich mache mir Sorgen, allein wegen meiner Kinder, Enkelkinder und Urenkelkinder."
Sie sieht neben Politik und Schule vor allem die ältere Generation in der Pflicht, den jungen Leuten zu erzählen, was damals war. Deswegen erzähle sie ihre Geschichte immer wieder. Damit sie sich nicht wiederholt.
Weitere Meldungen aus dem Archiv vom 13.05.2019 und vom 12.05.2019
- Alle Meldungen vom 13.05.2019 zeigen
- Alle Meldungen vom 12.05.2019 zeigen