
Proteste in Chile "Die Leute werden keine Ruhe geben"
Stand: 02.11.2019 08:48 Uhr
Zehntausende haben in Chile erneut für grundlegende Reformen demonstriert. Dabei kam es am Ende wieder zu Krawallen. Die Regierung zog unterdessen die geplante Kürzung der Unternehmenssteuer zurück.
Von Ivo Marusczyk, ARD-Studio Buenos Aires, zurzeit in Santiago de Chile
Sie demonstrieren laut und überwiegend friedlich. Die Proteste in Chile gehen unvermindert weiter. Wieder haben sich Tausende Menschen an der Plaza Italia in Santiago versammelt. Bis weit in die Nebenstraßen stehen, trommeln, singen und tanzen sie. Viele mit der Fahne von Chile, andere schwenken die Flagge der Mapuche, des größten indigenen Volks in Chile.
Nach wie vor richten die Proteste sich gegen das mangelhafte und löchrige Sozialsystem, gegen einen Staat der vielen eine gerechte Teilhabe nicht ermöglicht.
"Das chilenische Volk ist sehr unzufrieden mit dem Wirtschaftssystem in Lateinamerika", klagt eine Teilnehmerin. "Wir haben weder Zugang zum Gesundheitswesen noch zu Bildung, beides kostet Geld und am Schluss reicht es einfach nicht zum Leben. Und manche müssen mit winzigen Renten leben, die Mindestrente hier in Chile liegt knapp über 100 Dollar. Was soll man damit machen?"
Vor allem junge Demonstranten
Die meisten hier auf der Plaza Italia sind junge Leute, weit vom Rentenalter entfernt. Manche kommen aber auch mit der Familie. Kinder spielen und kurven mit dem Fahrrad durch die Menschenmenge. Einige ältere Menschen haben sich aber auch angeschlossen. "30 Jahre nach der Diktatur trauern wir wieder", hat eine Frau Anfang 50 auf ihre Fahne geschrieben.
"Wir wollen einfach ein gerechteres Land, mit Chancen für alle", erklärt sie ihre Teilnahme. "Meine Tochter hat studiert. Und jetzt ist sie auf die nächsten 20 Jahre verschuldet."
Die Protestierenden schlagen auf Töpfe - eine Protestform, die auf die Zeit der Pinochet-Diktatur zurückgeht. Und sie singen "Chile ist aufgewacht". Holzkreuze am Rand des Platzes erinnern an die Menschen, die bei den Unruhen der vergangenen beiden Wochen getötet wurden. Ein Teil vermutlich durch Polizeigewalt, die meisten aber bei Bränden oder Plünderungen.
Anhaltende Proteste in Chile
tagesschau 17:00 Uhr, 02.11.2019, Matthias Ebert, ARD Rio de Janeiro
Viele Teilnehmer trotz eines langen Wochenendes
Der Bürgermeister beziffert die Zahl der Demonstranten an diesem Freitagabend auf 22.000. Eine konservative Schätzung - die meisten Beobachter gehen von mehr aus: 30.000 oder 40.000, obwohl viele Menschen die Hauptstadt über das lange Wochenende verlassen haben. Die Stadtverwaltung lobt zunächst immer wieder, wie friedlich die Kundgebung abläuft.
Tatsächlich herrscht erst einmal Volksfest-Stimmung. Verkäufer bieten Bierdosen und Brötchen an, aber auch Zitronen und einfache Masken aus dem Baumarkt. Beides soll gegen Tränengas helfen. Denn es bleibt nicht so friedlich.
In der Menge sind auch viele Vermummte zu sehen, die sich zu einem "schwarzen Block" formieren und versuchen, Barrikaden anzuzünden. Steine und Brandsätze fliegen in Richtung eines U-Bahn-Abgangs. In der geschlossenen Station haben sich Polizisten verschanzt.
"Zu Beginn der Proteste haben sie Leute runtergezerrt und gefoltert", sagt einer der Demonstrierenden. "Deswegen ist dieser Bahnhof für uns jetzt ein befleckter Ort, ein Ort der Unterdrückung."
Polizei antwortet mit Reizgas und Gummigeschossen
Die Polizei schießt Tränengas-Granaten nach oben - was die Menge jedes Mal mit noch mehr Lärm quittiert. Nach Sonnenuntergang nehmen die Auseinandersetzungen zu. Eine Gruppe Demonstranten versucht, zum Präsidentenpalast zu marschieren. Andere greifen ein Hotel in der Nähe an. Beide Gruppen werden schnell mit Wasserwerfern und noch mehr Reizgas gestoppt. Auch Gummigeschosse kommen wieder zum Einsatz. Durch die Projektile sollen schon Dutzende Menschen im Lauf der Unruhen ein Auge verloren haben.
Später am Abend wird auch die Plaza Italia geräumt. Doch so einfach lässt sich die Protestwelle wohl nicht mehr stoppen. Die Regierung hatte zwar schon ein Sozialpaket versprochen, aber damit geben die Demonstranten sich noch lange nicht zufrieden. Sie verlangen inzwischen den Rücktritt des Präsidenten und eine neue Verfassung für Chile - die bestehende stammt noch aus der Zeit der Diktatur.
"Mein Eindruck ist, dass die Leute keine Ruhe geben werden, bis es konkrete Antworten auf die hier vorgetragenen Forderungen gibt", meint einer der Protestierenden. "Im Grunde geht es um eine neue demokratische Verfassung. Die Maßnahmen der Regierung reichen hinten und vorne nicht. Das müssen am Schluss ohnehin nur wieder die Bürger bezahlen."
Mittlerweile bilden sich im ganzen Land auch Bürgerversammlungen. In vielen Dörfern, in jedem Stadtviertel haben sich solche Komitees gegründet. Sie treffen sich und diskutieren, wie ihre Verfassung, wie ihr Land in Zukunft aussehen soll.
Proteste in Chile halten an: Demonstranten fordern neue Verfassung
Ivo Marusczyk, ARD Buenos Aires
02.11.2019 07:31 Uhr
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