Demonstranten in Sofia schwenken während eines Protests gegen die Regierung bulgarische und EU-Flaggen.

Proteste in Bulgarien Angst vor versickernden EU-Geldern

Stand: 22.07.2020 04:01 Uhr

Auch nach dem gescheiterten Misstrauensvotum in Bulgarien gehen die Proteste weiter. Die Freude über Gelder aus dem neuen EU-Haushalt hielt sich in Grenzen. Die Sorge ist, dass diese nie beim Volk ankommen werden.

Gestern Abend in der Fußgängerzone in Sofia: Mehrere Tausend Menschen ziehen über den breiten Boulevard, viele haben Vuvuzelas, haben Fahnen um die Schultern gezogen. Ungeachtet des gescheiterten Misstrauensantrags der Opposition gegen die Regierung von Ministerpräsident Boiko Borissow rufen sie in Sprechchören "Rücktritt, Rücktritt".

Und: Es sind ganz überwiegend junge Bulgarinnen und Bulgaren, die auf die Straßen gehen, in zahlreichen Städten des Landes und in der Hauptstadt. Der 29-jährige Todor Popov, ein IT-Fachmann, beschreibt seine Motivation so:

“Wir rufen 'Rücktritt', aber eigentlich wollen wir Haftstrafen. Wir wollen Gerechtigkeit. Wir wollen nicht, dass sie einfach abhauen und zurücktreten. Wir wollen Gerechtigkeit für das, was sie uns in den letzten zehn, 15 Jahre angetan haben, oder sogar noch mehr.

Sorgenvoller Blick auf EU-Haushalt

"Ich bin hier um zu protestieren, aber nicht allein für mich, sondern für ihre Zukunft", sagt mit Blick auf die Kinder Alina Dobrewa, die eigentlich in Brüssel als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im EU-Parlament arbeitet, nun aber ihren Mutterschutz mit ihren zehn Monate alten Tochter daheim verbringt. "Sie sehen mein Baby hier. Ich möchte, dass sie in Bulgarien lebt. Ich will nicht, dass sie Bulgarien als das Land ihrer Mutter ansieht, aber nicht als das Land ihrer Zukunft. Ich möchte ein Land, in dem sie sicher leben und gedeihen kann." 

Mit Sorge betrachten viele Demonstranten, dass die enormen Summen, die Ministerpräsident Borissow für Bulgarien aus dem nächsten, sechsjährigen EU-Haushalt erhalten hat - 29 Milliarden Euro - in den falschen Kanälen verschwinden könnten. Hristo Ivanow war zwischen 2014 und 2015 Borissows Koalitionspartner und Justizminister, bevor er wegen Borissows Widerstand gegen seine Justizreform von seinem Amt zurücktrat. Gegenüber dem ARD-Studio Südosteuropa sagte Ivanow gestern Abend:

Die Leute wissen, dass Boiko das Geld nicht aus seiner eigenen Tasche mitbringt. Es ist die Solidarität unter den Europäern. Und die Leute wissen noch etwas: dass die Chancen groß sind, falls es keine Regierungsänderung geben wird, dass dieses Geld, ein Großteil davon entweder vergeblich ausgegeben oder gestohlen wird. Und diese Summe jetzt anzubringen als Rechtfertigung für ihn, um zu sagen, dass er der Beste ist, ist exakt das Gegenteil von dem, was die Menschen sagen. Die Leute wissen, dass wir Teil der europäischen Heimat sind, wir wollen da sein, wir wollen gleichberechtigt sein, und das heißt Gleichheit vor dem Gesetz und gleichberechtigte Garantien dafür, dass das Geld, das unsere deutschen Brüder - wenn ich das so sagen darf - im gemeinsamen europäischen Haus opfern werden, nicht gestohlen wird.

Ministerpräsident hat zwei Optionen

Bereits vor dem gescheiterten Misstrauensvotum der Opposition hatte Borissow eine größere Regierungsumbildung angekündigt. Um den Druck der seit knapp zwei Wochen andauernden Proteste zu verringern, hätte der Ministerpräsident zwei Optionen: Er könnte entweder von seinem Amt zurücktreten und ein Kabinettsmitglied seiner Partei mit der Führung betrauen oder vorgezogene Neuwahlen anstreben - regulär würden im März nächsten Jahres die nächsten Parlamentswahlen stattfinden. Die Demonstranten bestehen auf einem sofortigen Rücktritt Borissows, auch um einen möglichen Missbrauch der neuen EU-Milliarden zu verhindern. Stimmen aus dem Protestzug von gestern:

Ich glaube nicht, dass das Geld beim Volk ankommt. Das meiste Geld davon wird in den Taschen der Leute in hohen Positionen landen, aber nicht die Menschen erreichen, die es brauchen. Deshalb sind wir auf der Straße, weil wir die Nase voll haben von Manipulationen, Propaganda und dass mächtige Leute tun und lassen können, ob es die Welt ihnen gehört.
Die Frage dreht sich um das System, das die Mechanismen von Machtmissbrauch und gestohlenem Staat schafft. Wir werden protestieren und ich werde politisch aktiv sein, bis wir ein System haben, das wirklich die Herrschaft des Rechts garantiert.
Clemens Verenkotte, Clemens Verenkotte, ARD Sofia, 22.07.2020 06:18 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 22. Juli 2020 um 09:15 Uhr in der Sendung "Europa heute".