Nach Meldung von Bin-Laden-Tod Viele Fragen, wilde Mutmaßungen, kaum Fakten

Stand: 04.05.2011 16:20 Uhr

Nach dem Tod Osama Bin Ladens stellen sich noch immer viele Fragen: Warum veröffentlichen die USA keine Bilder des Einsatzes? War es eine gezielte Tötung und wäre diese nach dem Völkerrecht erlaubt? Warum die rasche Seebestattung? Mutmaßungen gibt es viele, fundierte Antworten eher wenige.

Warum wurde Bin Laden gerade jetzt aufgespürt?

Den Zeitpunkt der Aktion begründete US-Präsident Barack Obama in seiner Rede zum Tod Osama Bin Ladens nur vage. Jahrelang hatte es immer wieder Berichte gegeben, wonach sich Bin Laden in einer abgelegenen Bergregion in Pakistan aufhalten soll, die de facto nicht unter der Kontrolle der pakistianischen Regierung ist. Erste Hinweise darauf, dass er sich in der Stadt Abbottabad mitten im Zentrum Pakistans versteckt hält, gab es laut Obama erst im vergangenen August.

In der vergangenen Woche habe er dann beschlossen, "dass wir genug Informationen hatten, um zu handeln". Er bewilligte einen Einsatz, "um Osama Bin Laden zu ergreifen und ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen", sagte der US-Präsident in seiner Rede.

Profitiert Obama innenpolitisch vom Tod Bin Ladens?

Innenpolitisch steht Obama derzeit schwer unter Druck. Der Fahndungserfolg dürfte seine Chancen auf eine Wiederwahl im November 2012 verbessern. Viele US-Medien schreiben bereits, sie sei damit praktisch gesichert. Experten wie Michael Werz, der für ein den Demokraten nahestehendes US-Institut arbeitet, verweisen aber darauf, dass die Wahlen vermutlich"entlang anderer politischer Themen" wie Gesundheitsreform und Wirtschaftspolitik entschieden werden. In Meinungsumfragen erntete Obama große Zustimmung: 93 Prozent der Befragten zeigten sich zufrieden mit dem Einsatz, und die Zahl derjenigen, die Obama für eine starke und entschlossene Führungspersönlichkeit halten, nahm um fünf Prozent zu.

Obama erhielt auch Lob von einigen Republikanern, die eine zweite Amtszeit des Präsidenten gerne verhindert würden. Sie zollten ihm Anerkennung für die Kommandoaktion in Pakistan. Auch Obamas Bemühungen, den Afghanistan-Krieg zu beenden dürfte der Tod Bin Ladens erleichtern. Der Krieg war schließlich eine Folge der Anschläge vom 11. September 2001, für die Bin Laden verantwortlich gemacht wird.

Warum gibt es kein Foto als Beweis?

Ein Bild als Beleg dafür, dass Bin Laden tot ist, gibt es bislang nicht. Das wirft nicht nur die Frage "warum nicht?" auf, sondern befeuert vor allem Verschwörungstheoretiker, die nicht glauben, dass Bin Laden wirklich tot ist. "In den USA hat der Wahlkampf für 2012 begonnen. Da passt doch eine Schlagzeile, dass Bin Laden tot sei" - solche und ähnlich Sätze sind in einschlägigen Internetforen zu lesen. Dort werden die USA mitunter auch für ein "Beweisfoto" verantwortlich gemacht, das schon kurz nach der Nachricht vom Tod Bin Ladens im pakistanischen Fernsehen auftauchte, dann aber schnell als Fälschung enttarnt wurde. Experten waren sich rasch einig, dass für dieses Foto ein Bild aus dem Jahr 1998 verwendet wurde, auf dem Bin Laden sehr lebendig ist. Mit Hilfe von Computer-Programmen wurde diese Bild offensichtlich so nachbearbeitet, dass es den toten Bin Laden zeigen soll.

Das Weiße Haus erwägt inzwischen die baldige Veröffentlichung eines Fotos. Skeptiker in der US-Regierung hätten argumentiert, dass die Aufnahmen "zu grausig" seien, um sie freizugeben - sie könnten zusätzliche Empörung in der islamischen Welt auslösen. Zudem gibt es Sicherheistbedenken: Obamas Sicherheitsberater Brennan sagte, man müsse sehr genau darüber nachdenken, wie Al Kaida auf die Fotos reagiere. Überdies bestehe die Gefahr, dass die Fotos Rückschlüsse auf den Einsatz zuließen; das köntte künftige Aktionen gefährden.

Befürworter meinten hingegen, die Veröffentlichung sei nötig, um Zweifel auszuräumen, dass der Al-Kaida-Anführer tatsächlich tot sei. In anderen Fällen, wie etwa nach dem Tod zweier Söhne von Iraks Staatschef Saddam Hussein im Jahr 2003, hatte die US-Regierung Bilder der Toten veröffentlicht.

Welchen Beweis gibt es für die Identität des Toten?

Als Beweis für Bin Ladens Tod führen die USA DNA-Tests an. Zwei Vertreter der US-Regierung sagten, damit sei die Leiche als Bin Laden identifiziert. Dies sei zu 99,9 Prozent sicher. In welcher Form und wann die Tests durchgeführt wurden, ist nicht bekannt. Es wird angenommen, dass die USA seit dem 11. September 2001 DNA-Proben von mehreren Mitgliedern der Bin-Laden-Familie gesammelt haben und diese zum Abgleich verwenden können. Nach Angaben der US-Regierung wurde Bin Laden zudem kurz vor seiner Tötung von einer Frau identifiziert, bei der es sich vermutlich um eine seiner Ehefrauen handelte.

Warum wurde Bin Laden sofort auf See bestattet?

Der Leichnam Bin Ladens wurde nach der Aktion vom Sonntag laut US-Verteidigungsministerium an Bord des Flugzeugträgers "USS Carl Vinson" gebracht und später im Norden des Arabischen Meeres bestattet. Zuvor sei die Leiche in einen "beschwerten Sack" getan worden, ein Offizier habe einige religiöse Ausführungen gemacht, bevor der Körper auf ein flaches Brett gelegt und dieses dann in Richtung des Wassers gekippt worden sei. Die TV-Sender CNN und MSNBC berichteten, mit der Bestattung im Meer solle verhindert werden, dass eine Pilgerstätte für Extremisten entstehen könnte.

Ist eine Seebestattung mit islamischen Traditionen vereinbar?

Zuvor hatte ein ranghoher US-Regierungsvertreter gesagt, die USA würden dafür Sorge tragen, dass Bin Ladens Leiche "im Einklang mit den muslimischen Praktiken und Traditionen behandelt" werde. Nach den Vorschriften des Islam muss die Leiche eines Muslims von männlichen Glaubensbrüdern gewaschen und möglichst innerhalb von 24 Stunden nach dem Tod bestattet werden. Für gewöhnlich wird der Leichnam in ein weißes Tuch gehüllt, auch bei einer Seebestattung. ARD-Korrespondent Jörg Armbruster glaubt allerdings nicht, dass es den USA damit gelungen ist, eine Verletzung religiöser Gefühle zu verhindern. Denn eine Seebestattung sei nur bei Notfällen auf einem Schiff zulässig.

Erlaubt das Völkerrecht eine gezielte Tötung?

Ob Bin Laden gezielt getötet wurde oder ob es einen Versuch gab, ihn lebend zu fassen, lässt sich derzeit nicht beurteilen. Obamas Berater John Brennan sagte, die USA hätten nicht von vornherein die Absicht gehabt, Bin Laden zu töten. "Wenn wir die Gelegenheit gehabt hätten, ihn lebend zu fassen, hätten wir das getan", so Brennan. Der US-Sender CNN berichtet allerdings, dass Bin Laden durch einen Kopfschuss starb. Es habe sich um eine "Kill Mission" gehandelt - eine gezielte Liquidation. Eine Festnahme sei nicht das Ziel gewesen.

Klar ist inzwischen, dass Bin Laden nicht bewaffnet war, als US-Spezialeinheiten sein Haus stürmten. Allerdings seien andere Männer in seiner Umgebung bewaffnet gewesen, teilte das Weiße Haus mit. Wegen des Widerstandes sei Bin Laden in einem "unberechenbaren Schusswechsel" ums Leben gekommen.

Ist eine solche Tötung vom Völkerrecht gedeckt? Um das zu beantworten, müsste nach Ansicht des Berliner Staats- und Völkerrechtlers Christian Tomuschat zunächst geklärt werden, wie genau die Operation abgelaufen ist. Zu den "großen Bedenken" bei einer gezielten Tötung gehöre es grundsätzlich, dass man dabei oft gar nicht zwischen dem Gesuchten selbst und den Personen in seiner Umgebung unterscheiden könne.

Der andere Grund, weshalb man normalerweise gegen gezielte Tötungen sein müsse, bestehe darin, dass es für den Betroffenen kein ordentliches Gerichtsverfahren gebe. Das Beweismaterial beruhe meist auf Berichten von Geheimdiensten. Das Opfer habe gar keine Möglichkeit, sich rechtlich zu verteidigen. Im Fall Bin Laden sei allerdings eine "besondere Situation" gegeben. Denn der Al-Kaida-Chef habe sich öffentlich für Terroranschläge "gerühmt". Mit der Unschuldsvermutung - die normalerweise einem Beschuldigten zugebilligt wird - sei es bei ihm nicht weit her, so Tomuschat.

Sein Leipziger Kollege Markus Kotzur hält die gezielte Tötung Bin Ladens für rechtmäßig. Es gebe "viele Anhaltspunkte, dass das Ganze im Rahmen dessen war, was das Völkerrecht bei solchen nicht internationalen beziehungsweise internationalisierten bewaffneten Konflikten zulässt", sagte der Völkerrechtler dem MDR. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel sei gewahrt worden. Es habe sich um einen "gezielten Schlag gehandelt, wo das Ziel möglichst konkret ins Visier genommen werden kann". Die Zivilbevölkerung und unschuldige Dritte seien nicht gefährdet worden.

Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele sieht dies hingegen skeptisch. Wenn es eine Aktion gewesen sei, "die nur auf die Tötung von Osama bin Laden ausgerichtet war, dann war es eine außerordentliche Hinrichtung", sagte Ströbele im Deutschlandfunk. "Die ist meiner Auffassung nach weder mit einem Grundgesetz noch mit Völkerrecht zu vereinbaren."

Gab es in der Vergangenheit Hinweise auf den Aufenthaltsort Bin Ladens?

Hinweise, dass sich Bin Laden in Pakistan aufhalten soll, gab es seit Jahren immer wieder. Die pakistanische Regierung reagierte darauf gereizt. "Sie sagen immer, Osama ist hier, aber sagen uns nicht, wo genau er sich aufhält", sagte ein Regierungssprecher im vergangenen Oktober, als aus NATO-Kreisen verlautete, Bin Laden lebe in relativem Komfort in einem Haus im Nordwesten Pakistans. Wenn Pakistan wüsste, wo er sei, würde man gegen ihn vorgehen, so der Sprecher weiter.

Lange Zeit war gemutmaßt worden, Bin Laden verstecke sich in einer abgelegenen pakistanischen Bergregion in Grenznähe zu Afghanistan. Tatsächlich lebte er jahrelang in Abbottabad, einer Großstadt, die von der Hauptstadt Islamabad in nur zwei Stunden zu erreichen ist. Wohlhabende Pakistaner verbringen hier gerne die heißen Sommermonate. Zudem befindet sich in Abbottabad eine Elite-Akademie des pakistanischen Militärs - und die liegt gerade einmal eineinhalb Kilometer von dem auffälligen Anwesen entfernt, in dem Bin Laden laut den US-Angaben lebte.

Wie konnte Bin Laden jahrelang unerkannt in Pakistan leben?

Nach Aussagen der USA hat sich Bin Laden fünf bis sechs Jahre in der von US-Spezialeinheiten gestürmten Villa in Abbottabad versteckt. In der Zeit habe er praktisch keine Kontakte außerhalb des Geländes gehabt, sei dort aber sehr aktiv gewesen und habe zum Beispiel Video- und Audio-Botschaften aufgenommen, so US-Präsidentenberater John Brennan.

Die pakistanische Regierung beteuert, sie habe den Aufenthaltsort Bin Ladens nicht gekannt. Sowohl innerhalb als auch außerhalb Pakistans wird aber bezweifelt, dass der meistgesuchte Mann der Welt tatsächlich völlig unerkannt dort lebte. Die ehemalige US-Außenministerin Condoleezza Rice hält es für denkbar, dass die politische Führung Pakistans tatsächlich nichts wusste. Sie ließ aber offen, ob dies auch für formell niedrigere Ebenen im Staat gelte. "Da wird in den kommenden Wochen einiges herauskommen", sagte sie.

Ähnlich bewertet das der Pakistan-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Christian Wagner. "Bin Laden konnte sich nicht ohne Wissen und Unterstützung von Teilen des pakistanischen Militärs und der Geheimdienste dort aufhalten. Die Zivilregierung selber muss es aber nicht unbedingt gewusst haben", so Wagner im tagesschau.de-Interview. Sobald es um außen- und sicherheitspolitische Fragen gehe, werde Pakistans Politik maßgeblich vom Militär bestimmt. Der Handlungsspielraum der Regierung sei hier gering.

War die pakistanische Regierung über den US-Einsatz informiert?

Zunächst gaben pakistanische Regierungskreise an, es habe sich um eine gemeinsame Aktion mit den USA gehandelt. Inzwischen ist klar, dass das nicht stimmt. Die pakistanischen Behörden seien nicht informiert worden, weil sie Bin Laden hätten "vorwarnen" können, sagte CIA-Chef Leon Panetta dem US-Magazin "Time". Die Verantwortlichen in den USA hätten entschieden, dass "jede Bemühung zur Zusammenarbeit mit den Pakistanern die Mission aufs Spiel gesetzt hätte". Die Regierung in Islamabad wurde von den US-Behörden erst informiert, als Bin Laden tot war.

Pakistans Präsident Asif Ali Zardari versucht, nicht mit der Aktion identifiziert zu werden und dennoch nicht als Randfigur darzustehen: Der Einsatz sei Ergebnis des gemeinsamen, jahrelangen Kampfes gegen Al Kaida, schreibt er in der "Washington Post". Immerhin will Pakistan nun prüfen, ob Bin Laden Hilfe aus dem Regierungsapparat bekommen hat. Das vermuten auch die USA - ein Berater von Präsident Obama unterstellte Pakistan kaum verhüllt Unterstützung des Terrorchefs.

Wie ernsthaft ist Pakistans Kampf gegen den Terrorismus?

Pakistans Rolle im Kampf gegen der Terrorismus ist nur schwer einzuschätzen. Einerseits sind mehr als 100.000 Soldaten an der pakistanisch-afghanischen Grenze gegen islamistische Aufständische im Einsatz, die auch in Pakistan seit Jahren blutige Terroranschläge mit Hunderten Toten verüben. Zudem wurde vor mehr als einem Jahr der Taliban-Vizechef Mullah Abdul Ghani Baradar in Karatschi festgenommen. Andererseits soll sich Taliban-Führer Mullah Omar noch in Pakistan versteckt halten - angeblich ebenfalls beschützt vom pakistanischen Geheimdienst ISI.

Der Geheimdienst soll zudem weiterhin in Indien aktive Terrorgruppen wie Lashkar-e-Taiba fördern, die dort für zahlreiche Anschläge wie etwa die Terrorserie von Mumbai Ende 2008 mit mehr als 170 Toten verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund wird Pakistan in einer Mitte 2010 veröffentlichten Studie der London School of Economics unverblümt ein "doppeltes Spiel erstaunlichen Ausmaßes" vorgeworfen.

Dass Bin Laden in unmittelbarer Nähe zu pakistanischen Militärs lebte, dürfte die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen den USA und Pakistan weiter verschlechtern. Das beiderseitige Verhältnis ist durch US-Drohnenangriffe gegen Kämpfer der Al Kaida und der mit ihnen verbündeten Taliban im Westen Pakistans belastet. Die USA werfen der Regierung vor, nicht entschieden genug gegen die Extremisten vorzugehen.

Zusammengestellt von Holger Schwesinger, tagesschau.de