Kolesnikowa bei Demo
Interview

Belarusische Opposition "Symbol der Proteste und der Belarusen"

Stand: 22.10.2020 13:18 Uhr

Die belarusische Oppositionsführerin Kolesnikowa sei auch im Gefängnis gesellschaftlich aktiv, erzählt ihre Schwester Tazjana Chomytsch im Interview. Dass die Protestbewegung den Sacharow-Preis erhält, werde sie erst spät erfahren.

tagesschau.de: Frau Chomytsch, die belarusische Oppositionsbewegung erhält in diesem Jahr den Sacharow-Preis, wie das EU-Parlament heute bekanntgab.

Tazjana Chomytsch: Hurra! Das ist eine sehr gute Nachricht. Maria wird davon leider erst nächste Woche erfahren. Ihre Anwältin ist heute bei ihr und weiß noch nichts von der Neuigkeit.

tagesschau.de: Ihre Schwester Maria Kolesnikowa sitzt in der Stadt Schodsina im Gefängnis, ihr wird "Gefährdung der staatlichen Sicherheit" in Belarus vorgeworfen. Wo sind Sie jetzt?

Chomytsch: Ich bin jetzt in Sicherheit - in Polen. Das gibt mir die Möglichkeit, alles in meiner Macht Stehende für Maria zu tun. Das gibt mir viel Kraft. Natürlich gibt es einen bestimmten Stress, der aus der gesamten Situation entsteht: Maria ist schließlich im Gefängnis - ich mache mir Sorgen um sie. Aber ich versuche, mich nicht unterkriegen zu lassen, um ihr zu helfen. Wäre ich jetzt in Belarus, wäre das viel schwieriger.

tagesschau.de: Stehen Sie in Polen unter Polizeischutz?

Chomytsch: Nein.

tagesschau.de: Werden Sie von belarusischer Seite aus bedroht?

Chomytsch: Nein, da ist nichts vorgekommen.

"Der jüngste Brief von ihr ist vom 6. Oktober"

tagesschau.de: Können Sie derzeit mit ihrer Schwester Kontakt halten?

Chomytsch: Nicht persönlich, wir können uns nur Briefe schreiben und über ihre Anwältin Nachrichten übermitteln. In ihren Briefen schreibt Maria über die begrenzten Nachrichten, die sie in Haft über staatliche Fernsehkanäle und Zeitungen mitbekommt - und darüber, dass jeder Tag uns dem Sieg näher bringe.

Bis ein Adressat einen Brief erhält, den sie geschrieben hat, vergeht viel Zeit - zwischen fünf und zehn Tagen. Der jüngste Brief von ihr, den ich habe, ist vom 6. Oktober.

Maria fühlt sich physisch und psychisch gut. Sie ist ein sehr positiver, mental starker Mensch - daher gibt sie sich auch in dieser Situation nicht geschlagen. Dass viele Leute ihr Briefe schreiben, hilft ihr sehr.

tagesschau.de: Sitzt sie in Einzelhaft?

Chomytsch: Nein, sie ist mit mehreren in einer Zelle. Ob alle von ihnen politische Gefangene sind, weiß ich nicht - sie sagt, es seien ganz unterschiedliche Frauen.

"Sie hat die Belarusen gebeten, Bücher zu spenden"

tagesschau.de: Womit beschäftigt sie sich jetzt?

Chomytsch: Während der täglichen Stunde an der frischen Luft treibt sie Sport, um fit zu bleiben. Sie hat wieder angefangen, Englisch zu lernen und Zugang zur Gefängnisbibliothek bekommen. Sie hat schon immer viel und schnell gelesen und in Haft jetzt Tolkiens "Herr der Ringe", Puschkin, den belarusischen Dichter Janka Kupala und "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" von Swetlana Alexijewitsch gelesen. Sie hat auch die Belarusen gebeten, Bücher an die Gefängnisbibliothek zu spenden - das ist möglich, und viele Freunde und Bekannte sind dem Aufruf gefolgt. Außerdem hat sie ein Projekt zur Wiedereingliederung weiblicher Gefangener ins Leben gerufen, das ihnen nach der Freilassung helfen soll.

tagesschau.de: Die Festnahme ihrer Schwester war den Berichten zufolge gewaltsam, auch über Misshandlungen Gefangener in belarusischen Gefängnissen gibt es viele Informationen. Wie steht es um Kolesnikowas Gesundheit?

Chomytsch: Anfangs gab es Probleme wegen einer Allergie, die sie hat - die Haftbedingungen waren nicht allzu gut. Aber ihre Anwältin hat sich an die Gefängnisleitung gewandt und das in Ordnung gebracht.

tagesschau.de: Sie selbst sind nicht erst durch die Inhaftierung Ihrer Schwester zur Aktivistin geworden. Was haben Sie als nächstes vor?

Chomytsch: Ich werde heute Abend bei einem Solidaritätskonzert für Maria, dass ihre früheren Arbeitskolleginnen in Stuttgart organisiert haben, per Videoschalte ihre Briefe vorlesen - damit die Belarusen Marias Stimme hören und wissen, dass sie nicht aufgibt und voller Optimismus ist. Ich selbst wirke schon seit Mai in der Kampagne von Viktor Babariko mit (belarusischer Bankier, dem in Haft die Präsidentschaftskandidatur versagt blieb. Kolesnikowa trat als seine Stellvertreterin in den Wahlkampf ein, Anmerkung der Redaktion). Dieses Engagement werde ich fortsetzen.

Und ich versuche in erhöhtem Maße, Marias Stimme zu sein, damit sie gehört wird. Maria ist jetzt ein Symbol der Proteste, ein Symbol der Belarusen, die weiterhin kämpfen, die nicht aufgeben. Ich bespiele auch ihre Social-Media-Kanäle und habe eine Webseite gelauncht, auf der ihr Werdegang von der Aktivistin und Politikerin zum “Das Löwenherz von Belarus” erzählt wird. Ich möchte, dass im Ausland so viele Menschen wie möglich davon erfahren.

Die Fragen stellte Jasper Steinlein, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 22. Oktober 2020 um 13:00 Uhr in den Nachrichten.