Das Foto des russischen Verteidigungsministeriums zeigt ein Iskander-K-Raketensystem. | AP

Atomwaffen Zwischen realer Gefahr und Schreckgespenst

Stand: 04.04.2022 05:21 Uhr

Russlands wenig verhohlene Drohungen mit Atomwaffen zeigen, wie real die Gefahren eines Einsatzes sind - und wie notwendig Abrüstungsverhandlungen mit allen Staaten im Besitz von Atomwaffen.

Von Silvia Stöber, tagesschau.de

"Die Aussicht auf einen Nuklearkonflikt, die einst undenkbar war, ist nun wieder in den Bereich des Möglichen gerückt", warnte UN-Generalsekretär Antonio Guterres Mitte März. Er sprach die Ängste vieler über die Entwicklungen im Krieg Russlands gegen die Ukraine aus - und darüber hinaus die Sorgen vor einer möglichen nuklearen Aufrüstung weltweit.

Silvia Stöber tagesschau.de

Wenige Kriege, wenn überhaupt jemals, seien mit solchen nuklearen Drohgebärden begonnen worden wie der Einmarsch der russischen Streitkräfte in der Ukraine am 24. Februar, schreibt zum Beispiel Olga Oliker im Magazin "Foreign Affairs". Sie ist Direktorin des Programms für Europa und Zentralasien der unabhängigen Organisation International Crisis Group.

Dies bezieht sich nicht nur auf Äußerungen der russischen Führung, sondern auch auf militärische Aktivitäten: Fünf Tage vor dem Einmarsch zeigten die russischen Abschreckungsstreitkräfte bei einer Militärübung ihre Fähigkeiten. Präsident Wladimir Putin und der belarusische Machthaber Alexander Lukaschenko überwachten den Fortgang persönlich. Gestartet wurden unter anderem Interkontinentalraketen und Marschflugkörper, die Nuklearsprengköpfe tragen können.

Danach ließ Putin diese Abschreckungsstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen. Es folgten weitere Abschüsse, die Experten als Routineübungen einordnen, sie aber aufmerksam verfolgen. Zudem berichtete das schwedische Fernsehen, zwei von vier russischen Kampfjets, die kürzlich den schwedischen Luftraum verletzt hätten, seien mit Atomraketen bestückt gewesen.

Drohungen und falsche Behauptungen

Dass Putin die NATO vor einem direkten Eingreifen in der Ukraine abhalten will, erklärte er recht unverhohlen zu Beginn der Invasion: Jegliche Einmischung von außen habe Konsequenzen zur Folge, "die Ihr in Eurer Geschichte noch nicht erlebt habt". Auch verglich er die Wirtschaftssanktionen gegen Russland mit einer Kriegserklärung. Womöglich wolle Putin den Westen sogar dazu bringen, die Ukraine zur Unterwerfung zu bewegen, so Oliker.

Daneben sieht sie den Versuch Putins, die Ukraine selbst mit dem "Schreckgespenst einer nuklearen Eskalation" zur Kapitulation oder wenigstens zu weitgehenden Zugeständnissen am Verhandlungstisch zu bewegen. Dafür sprechen falsche Behauptungen Putins, die Ukraine baue Atomwaffen oder "schmutzige Bomben" mit Material aus den eigenen Atomkraftwerken, was zu Vermutungen über Operationen unter falscher Flagge Anlass gab.

Atomwaffeneinsatz ohne militärischen Zweck

Da sich die Ukrainer nicht abschrecken lassen und deren Streitkräfte die russischen Truppen in einigen Gebieten inzwischen sogar zurückdrängen, stellt sich die Frage nach den nächsten Schritten Putins. Zwar betonte sein Sprecher Dmitri Peskow bereits zwei Mal, Atomwaffen würden nur bei Gefährdung der Existenz Russlands eingesetzt - wie es der russischen Militärdoktrin entspricht. Aber die russische Führung hatte auch dementiert, einen Einmarsch in der Ukraine zu erwägen.

Glaubwürdig erscheinen Einschätzungen von Experten wie Oliker, wonach ein Atomwaffeneinsatz in der aktuellen Lage keinen militärischen Zweck erfüllen würde außer Schock und Horror, wofür Russland noch immer andere Mittel zur Verfügung hätte.

Die Folgen hingegen wären verheerend. Zu erwarten wäre nicht nur eine weltweite Ächtung Russlands. Es wären vor allem massive Auswirkungen für die eigene Bevölkerung zu befürchten, gleich ob eine taktische Nuklearwaffe über der Ukraine, der Ostsee oder dem Schwarzen Meer eingesetzt wird - Szenarien, die unter anderem Spezialisten des Modern War Institute in den USA diskutieren.

Selbst diese vergleichsweise kleinen Sprengköpfe können eine Wirkung wie die Bomben auf Hiroshoma und Nagasaki entfalten, so Oliker. Der radioaktive Niederschlag würde sich über Hunderte Kilometer oder weiter ausbreiten, je nach Windrichtung nach Russland oder in die NATO-Staaten. Letzteres könnte als Angriff auf die NATO gewertet werden und den Druck so erhöhen, dass die Allianz doch direkt in der Ukraine eingreift. Genau dies will Putin angesichts der Unterlegenheit seiner konventionellen Waffen verhindern. Die NATO sowie Deutschland, die USA und weitere Verbündete haben das bisher ausgeschlossen.

Denn bei allem gegenseitigen Misstrauen gab es bislang immer noch die Gewissheit, dass die NATO und Russland eine direkte Konfrontation verhindern wollen. Solange eine Eskalation durch verbale Drohungen und militärische Aktionen in diese Richtung ausbleibt, sieht Oliker ein geringes Risiko eines Atomwaffeneinsatzes, auch wenn die Gefahr real sei.

Nukleare Kriegsspiele

Auswirkungen haben die Drohgebärden und Diskussionen darüber über den Krieg in der Ukraine hinaus. Der Atomwaffenexperte Pavel Podvig, der am Institut der Vereinten Nationen für Abrüstungsforschung in Genf arbeitet, sieht die Gefahr, dass "nukleare Kriegsspiele" den Einsatz von Atomwaffen normal erscheinen lassen und es nur noch um politisches Kalkül und militärischen Nutzen geht.

Viele Staaten sehen sich genau an, mit welchem Erfolg Putin sein Atomwaffenarsenal als Druckmittel einsetzen kann, um seine imperialen Ziele gegen den Nachbarn Ukraine und das Verteidigungsbündnis NATO durchzusetzen. Neben der Frage nach Nutzen und Notwendigkeit zur Beschaffung eigener Atomraketen geht es darum, was Abkommen mit Sicherheitsgarantien noch wert sind.

Russland hatte bereits mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 das Budapester Memorandum gebrochen. Es garantierte seit 1994 der Ukraine, Kasachstan und Belarus Souveränität und territoriale Integrität im Gegenzug für den Verzicht auf deren Atomwaffen. Machthaber Alexander Lukaschenko, der massiv unter Druck Russlands steht, ließ in einem Referendum am 27. Februar beschließen, dass der Verzicht auf Atomwaffen aus der Verfassung gestrichen wird und Belarus seinen neutralen Status aufgibt.

Gegenseitige Abschreckung

Noch besteht der Atomwaffensperrvertrag mit 191 Vertragsstaaten, der 1970 in Kraft trat. Demnach dürfen nur die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien Atomwaffen besitzen und zu defensiven Zwecken, der Abschreckung und der Vorbeugung von Krieg dienen. Auch müssen sich die fünf Staaten gegen eine Weiterverbreitung von Atomwaffen einsetzen. Dieses Versprechen erneuerten die Fünf zu Beginn dieses Jahres.

Als Atommächte gelten darüber hinaus Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea. Sie sind keine Vertragsstaaten. Die Verhandlungen mit dem Iran gerieten zuletzt ins Stocken.

Da Russland und die USA zusammen mehr als 90 Prozent der mehr als 13.000 Atomsprengköpfe weltweit besitzen, liegt es vor allem an ihnen, sich für Transparenz, Kontrolle und Abrüstung einzusetzen. Beide halten nach Angaben der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) etwa 4000 Nuklearsprengköpfe in ihrem aktiven Bestand.

Unterschieden wird zwischen strategischen Atomwaffen, die Ziele in großer Ferne erreichen und eine hohe Zerstörungskraft haben. Taktische Atomwaffen haben dagegen kleine bis mittlere Reichweiten. Deren Anzahl ist nicht in Verträgen geregelt. Nach Angaben von Oberst a.D. Wolfgang Richter, Militärexperte bei der SWP, verständigten sich Russland und die USA in den vergangenen Jahren auf informeller Ebene, deren Zahl zu reduzieren. Russland besitzt Oliker zufolge etwa 2000 solcher taktischen Atomwaffen.

Trotz aller Spannungen erneuerten beide Seiten 2021 den New-Start-Vertrag und verhinderten so dessen Auslaufen. Dieses Abkommen begrenzt die Zahl der strategischen Atomwaffen und Trägersysteme, die das Hoheitsgebiet des jeweils anderen erreichen können - ausgehend von eigenem Territorium oder von U-Booten. Dieses vereinbarte Gleichgewicht solle Russland und die USA von einem strategischen Nuklearangriff, einem Erstschlag, abschrecken, und zwar indem die Zweitschlagfähigkeit beider Seiten garantiert ist, so Richter.

China einbeziehen

Um aber diese "strategische Stabilität" beizubehalten, muss nun innerhalb von fünf Jahren ein Nachfolgevertrag geschlossen werden. Berücksichtigt werden müssten dann neue Technologien wie Hyperschallraketen. Auch der INF-Vertrag zum Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern muss neu verhandelt werden. Er lief 2019 aus.

In beiden Fällen geht es auch darum, zumindest China mit seinem wachsenden Nuklearpotenzial einzubeziehen. Darauf bestanden die USA. Es spielt aber auch für Russlands Sicherheitspolitik eine Rolle. Die Regierungen beider Staaten hatten 2007 versucht, im Rahmen der UNO den INF-Vertrag auf weitere Staaten auszudehnen. Doch nicht nur China, auch Frankreich und Großbritannien lehnten ab. Indien zeigte sich ebenfalls nicht zu einer Beteiligung bereit, dies auch mit Blick auf den Rivalen China.

Putins wenig verklausulierte Aussagen zeigen, wie real die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes ist. Der Krieg gegen die Ukraine könnte zur nuklearen Aufrüstung führen oder die Weltgemeinschaft davon überzeugen, mit neuen Abkommen die nuklearen Gefahren zu bannen - abhängig auch davon, wie erfolgreich Putin sein wird.

Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 27. Februar 2022 um 15:00 Uhr.