
"Atlas der Zivilgesellschaft" Sechs von zehn Ländern beschneiden Grundrechte
Vereinigungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit sind aktuell so eingeschränkt wie nie zuvor. Der neue "Atlas Zivilgesellschaft" kommt zu dem Schluss, dass 88 Prozent der Weltbevölkerung diese Rechte nicht garantiert werden.
Sich gegen soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung oder Umweltzerstörung zu engagieren, wird in vielen Weltregionen zunehmend schwieriger. Lediglich drei Prozent der Weltbevölkerung leben einer Studie zufolge in Staaten, in denen zivilgesellschaftliche Grundfreiheiten garantiert sind. Das geht aus dem neuen "Atlas der Zivilgesellschaft" hervor, den das evangelische Hilfswerk "Brot für die Welt" gemeinsam mit der Organisation Civicus Berlin vorstellte.
6,9 Milliarden Menschen und somit 88 Prozent der Weltbevölkerung leben demnach in Ländern, in denen Regierungen Grundrechte wie die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit beschneiden oder Kritiker unterdrücken. Statistisch gesehen, betrifft das sechs von zehn Ländern. "Noch nie waren im Atlas so viele Länder rot eingefärbt. Hier wird jegliche Kritik an staatlichem Handeln schwer bestraft", sagte Dagmar Pruin, Präsidentin von "Brot für die Welt", bei der Vorstellung des Berichts in Berlin.
"Der negative Trend setzt sich fort"
Im Vergleich zum Vorjahr sei die Zahl angestiegen. "Der negative Trend setzt sich unvermindert fort", sagte Pruin. Für insgesamt 14 Länder sei die Bewertung schlechter ausgefallen als im Jahr zuvor. Unter anderem Jordanien und Mali und Singapur fallen im diesjährigen Atlas in die Kategorie "unterdrückt". Nur ein Land, die Mongolei, sei eine Kategorie aufgestiegen. Es sei davon auszugehen, dass die Grundfreiheiten weltweit weiter abnehmen werden, erklärte das Hilfswerk.
In 41 Staaten der Welt (acht Prozent der Weltbevölkerung) gilt die Zivilgesellschaft als beeinträchtigt, in 43 Staaten (18 Prozent) als beschränkt. In den 48 Staaten, die laut der Studie unterdrückte Zivilgesellschaften haben, leben 44 Prozent der Weltbevölkerung. Ein Viertel der Menschen lebt in den 25 Staaten, in denen der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum als geschlossen gilt. In diesen Ländern wie China, Iran oder Nicaragua werde jegliche Kritik an staatlichem Handeln schwer bestraft, erklärte Pruin.
Noch nie so viele autokratische Regime
Für Menschenrechtsverteidiger sei die Arbeit besonders in lateinamerikanischen Ländern gefährlich, ergänzte Silke Pfeiffer, Leiterin des Referats für Menschenrechte und Frieden des Hilfswerks. "Allein in Kolumbien und Mexiko wird die Hälfte ermordet." Zudem seien noch nie so viele autokratische Regime gezählt worden, sagte Pfeiffer. "Das erleben wir auf allen Kontinenten."
Die am häufigsten beobachtete Verletzung zivilgesellschaftlicher Handlungsräume sei dabei das Vorgehen gegen Aktivistinnen und Aktivisten sowie gegen Journalisten - insbesondere im Kontext von Demonstrationen. "Wir erleben aber zum Beispiel auch einen deutlichen Rückgang der Internetfreiheit, die im letzten Jahr auf dem Tiefpunkt war", erklärte Pfeiffer.
Beeinträchtigte Grundrechte in zwölf EU-Staaten
Auch in der Europäischen Union werden Grundrechte beschränkt, wie aus dem Atlas hervorgeht. Nur 173 Millionen von 445 Millionen Menschen in der EU lebten in offenen Gesellschaften, heißt es. Als beeinträchtigt gelten die Grundrechte in zwölf EU-Staaten, in denen knapp 59 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger lebten. Deutschland gehört weiterhin zu den als "offen" eingestuften Ländern.
Auf der Liste stehen unter anderem Polen und Ungarn, auch in Belgien oder Tschechien werde die zivilgesellschaftliche Lage als "beeinträchtigt" eingestuft. "Die polnische Regierungspartei PiS hat eine Justizreform vorangetrieben, die die Gewaltenteilung schwer beschädigt", erklärte Pruin. Zudem seien auch die Presse- und Meinungsfreiheit in Polen eingeschränkt: "Die Grenze zu Belarus wurde von der Öffentlichkeit abgeschirmt und die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten und Menschenrechtsorganisationen behindert."
Bei Belgien sorgte "anhaltende Gewalt seitens der Sicherheitskräfte selbst bei friedlichen Versammlungen gegen Rassismus und soziale Ungleichheit im Winter 2020/21" für das Abrutschen in der Bewertung.
"Demokratie fällt nicht vom Himmel"
Pruin appellierte an Regierungen, starke Zivilgesellschaften zu ermöglichen. Ebenso müsse der Zivilgesellschaft selbst bewusst sein, dass sie immer und überall für die Demokratie kämpfen muss. "Demokratie fällt nicht vom Himmel."
Die Ergebnisse der jährlichen Untersuchung basieren auf Rechercheergebnissen der Nichtregierungsorganisation Civicus, die insgesamt 194 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen sowie die Palästinsischen Gebiete und Taiwan beobachtet. Dafür wertet die Organisation den Angaben zufolge laufend Berichte von lokalen Nichtregierungsorganisationen, internationalen Partnerorganisationen und öffentlichen Quellen aus.