Weinende Mädchen sitzen in einem Camp für Flüchtlinge aus Syrien, im Bekaa-Tal (Libanon).

Flüchtlinge im Libanon Syriens verlorene Kinder

Stand: 28.05.2021 17:29 Uhr

In den Flüchtlingscamps im Libanon wächst eine verlorene Generation von Kindern aus Syrien heran. Die meisten können sich an ihre Heimat gar nicht mehr erinnern. Als Müllsammler müssen sie ihr Geld verdienen.

Die Straße, ihre zugemüllten Ränder und Gräben, das ist ihr Revier. Sie führt quer durch die Bekaa-Ebene Richtung Syrien. Links und rechts Flüchtlingscamps, Felder, Gehöfte. Oft werfen die Lkw-Fahrer Flaschen aus dem Fenster, aus Plastik oder aus Glas. Manchmal sogar etwas Essbares.

Wie ein junges Rudel streunen die Kinder an der Straße entlang. Ständig auf der Suche nach etwas, das sich sammeln und verwerten lässt. "Am besten ist Aluminium oder Metall", sagt Marwan, der Anführer. Er hat dieses harte, verdreckte Flüchtlingskindergesicht - und ist sicher nicht älter als acht. Der Kleinste heißt Salah. Als er uns sieht, kriegt er Angst und läuft heulend davon.

300.000 Kinder besuchen keine Schule

Es gibt keine Statistik darüber, wie viele der etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge im Libanon minderjährig sind. Der Staat verhinderte die Vereinten Nationen daran, die Syrerinnen und Syrer offiziell als Flüchtlinge anzuerkennen. Sie sollen sich in den Camps nicht dauerhaft einrichten können - die Lager sollen ein Provisorium bleiben. Internationale Hilfsorganisationen schätzen, dass etwa 300.000 Kinder nicht einmal die staatlichen Schulen besuchen.

Stattdessen müssen sie sich als billige Arbeitskräfte verdingen: auf den Feldern, bei der Kartoffelernte oder eben am Straßenrand, um verwertbaren Abfall zu sammeln. "Für ein Kilo Aluminium kriegen wir 2000 Pfund (ca. 20 Cent)", sagt einer der Jungs. "Nein", korrigiert ihn der andere, "2500 kriegen wir heute dafür." Und wie sie sich streiten, über Mengen und Preise, wirken sie mit einem Mal furchtbar erwachsen. 

Manchmal sieht man sie kaum, wenn man auf der Straße an ihnen vorbeifährt, weil sie so klein sind. Und die vollgestopften Müllsäcke, die sie hinter sich herschleppen, sind so groß. Es ist eine verlorene Generation, die hier seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Frühjahr 2011 in Flüchtlingslagern heranwächst. In der Bekaa-Ebene hausen jene Familien, die zu arm sind, um sich einen Fluchtweg übers Mittelmeer zu erkaufen: Bauern, einfache Handwerker, Tagelöhner.

Umgerechnet einen Dollar am Tag

Bis vor eineinhalb Jahren gingen viele syrische Mädchen und Jungen noch in staatliche Schulen; zwar nur nachmittags, um die syrischen von den libanesischen Kindern getrennt zu unterrichten. Doch seit Ausbruch der Covid-Pandemie sind die Schulen für syrische Flüchtlingskinder geschlossen. Viele werden nun von den Eltern zur Arbeit geschickt, um etwas für den Familienunterhalt dazuzuverdienen. Umgerechnet einen Dollar am Tag bringen sie dann abends nach Hause - ein Hungerlohn.

Libanons Finanzsystem ist in den vergangenen Monaten zusammengebrochen. Die Währung zerfällt, die Infrastruktur kollabiert. Die Weltbank und die Vereinten Nationen warnen davor, das Land könne mit seinen vielen nicht registrierten Flüchtlingscamps Ende des Jahres zum Hungergebiet werden.

In den edlen Restaurants an Beiruts Corniche ist von Krise wenig zu spüren. Sie sind zugeparkt von den Porsches und BMW der libanesischen Clan-Schickeria. In der Bekaa-Ebene aber ist der Notstand allgegenwärtig. Das Leben im Flüchtlingscamp hat seinen Preis. Landbesitzer kassieren monatlich bis zu 100 Dollar für einen Standplatz.

"Hauptsache Europa"

Khaled, ein ehemaliger Handwerker aus Aleppo, lebt seit 2015 mit seiner Frau und den zwei Kindern in der Bekaa. Er habe nur einen großen Wunsch, sagt er, nach Europa zu gehen, nach Deutschland oder egal wohin, Hauptsache Europa. Nicht um seinetwillen, sondern für seine Kinder.

Ahmad, sein neunjähriger Sohn, führt uns an Zelten und Baracken vorbei auf einen Sandplatz. Da spielen sie manchmal Fußball. Als er drei war, flüchtete die Familie über die Berge, seine Schwester wurde hier im Lager geboren. An Syrien kann sich Ahmad nicht mehr erinnern. "Aber es soll schön sein", sagt er, das hätten ihm die Eltern erzählt. 

Martin Durm, Martin Durm, SWR, 28.05.2021 15:45 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 26. Mai 2021 um 07:48 Uhr.