Frauen trauern an einem Grab. | AFP

Völkermord an Jesiden Kleine Schritte zur Gerechtigkeit

Stand: 08.01.2022 17:11 Uhr

Der IS tötete zwischen 2014 und 2017 in Syrien und im Irak Tausende jesidische Männer, hielt Frauen als Sexsklavinnen. Noch immer werden viele Jesiden vermisst. Die Aufarbeitung der Verbrechen geht nur langsam voran.

Von Miriam Staber, ARD-Studio Kairo

Mit lauten Rufen trauern jesidische Frauen um ihre Verwandten - ihre Brüder, Väter, Onkel, aber auch Mütter und Schwestern: Der Trauerzug im Nordirak ist Hunderte Meter lang, wie Videos in Sozialen Medien zeigen. Die Hinterbliebenen tragen schmale Särge mit großen Fotos der Verstorbenen: Es sind 41 Jesiden, die vor einigen Wochen im Dorf Kojo beerdigt werden.

Ein Trauernder erzählt der Nachrichtenagentur AFP: "In den letzten Monaten wurden zahlreiche Leichen aus den Massengräbern identifiziert, darunter waren fünf meiner Familienmitglieder, meine Brüder und deren Kinder. Nun wurden auch die Frau meines Bruders und mein Onkel gefunden und beerdigt. Jeden Tag reißen die Wunden wieder auf. Es ist sehr schwer!"

Trauernde tragen Särge. | AFP

In schmalen Särgen trugen Hinterbliebene Überreste von in Kojo getöteten Jesiden zu Grabe. Bild: AFP

"Sie wollten uns töten"

Zwischen 2014 und 2017 tötete der selbsternannte "Islamische Staat" Tausende Jesiden - eine eigenständige Volksgruppe, eine ethnisch-religiöse Minderheit vor allem in Syrien und im Irak. Jesiden sind Monotheisten, sie glauben an einen Gott, verehren aber auch Engel.

Der IS sah sie als Teufelsanbeter. Wer nicht zum Islam konvertieren wollte, wurde ermordet, erzählen Überlebende dem Sender Al Arabiya: "Es ist für jede Familie schwer. Es gibt Familien, von denen niemand überlebt hat, und Familien, in denen nur eine Person, ein Junge oder ein Mädchen überlebt hat."

Mehrere internationale Organisationen und Staaten haben die Verbrechen des IS an den Jesiden als Völkermord eingestuft. Überlebende berichten von Massen-Erschießungen. Eine solche Erschießung hat ein junger Mann etwa nur durch Zufall überlebt: "Der IS hat auf mich geschossen, vier Kugeln trafen mich. Als wir flüchteten, haben sie uns verfolgt, sie wollten uns nacheinander töten."

Gegen unverheiratete jesidische Mädchen und Frauen übten die IS-Kämpfer eine spezifische Form der Gewalt aus: Sie vergewaltigten sie systematisch, hielten sie teils jahrelang als Sexsklavinnen. "Ich war noch ein Kind, ich war damals 14 Jahre alt. Sie kamen und vergewaltigten mich", erinnert sich eine Überlebende. "Ich hatte keine andere Wahl. Jedes Mal, wenn ich mich weigerte, bestraften sie mich, sperrten mich in ein Zimmer oder schlugen mich. Sie haben mich zur Strafe sogar hungern lassen."

Die Suche nach Toten mithilfe der DNA

In den vergangenen Jahren konnte der IS zurückgedrängt werden, kontrolliert kein zusammenhängendes Gebiet mehr. Und so kann der Völkermord nach und nach aufgearbeitet werden. Im Irak bedeutet das konkret, dass ein Massengrab nach dem anderen geöffnet und die Leichen identifiziert werden. Dabei unterstützt auch die Internationale Kommission für vermissten Personen, kurz ICMP.

Der Irak-Direktor von ICMP Alexander Hug, sagt im Gespräch mit der ARD: "Das ist ein komplizierter und langwieriger Prozess. Da müssen die Gräber zuerst gefunden werden, dann müssen die Gräber ausgehoben werden - die teilweise hundert, wenn nicht tausend menschliche Überreste beinhalten." Den menschlichen Überresten würden dann Proben entnommen, um DNA-Profile zu erstellen.

Es mangelt am Willen

Die Ermittler gleichen die DNA-Profile der Toten mit der DNA von überlebenden Verwandten ab und identifizieren so die Opfer. Aber noch immer werden Tausende Jesiden vermisst - der Prozess zieht sich. Unter anderem, sagen Beobachter, weil es der irakischen Regierung an politischem Willen mangele, die Verbrechen aufzuklären.

"Das Identifizieren der Toten kommt nur schleppend voran", beklagt Hug. Es sei deshalb wichtig, dass der Staat mehr politischen Willen zeige, alle Vermissten zu finden, egal wie diese Menschen verschwunden seien. "Und es dann auch möglich macht, dass die Familien der vermissten Personen hier zu einem Abschluss kommen können."

Langsamer Fortschritt, aber erste Prozesse

Von Gerechtigkeit, von systematischen Strafen für die IS-Verbrecher sind die Jesiden noch weit entfernt. Aber es gibt erste Prozesse, unter anderem in Deutschland - hier lebt inzwischen die größte jesidische Diaspora-Gemeinde. Und auch im Irak laufen Ermittlungen. Die Massengräber zu finden und zu öffnen, hilft dabei. Auch wenn es ein Wettlauf mit der Zeit ist. Denn die Toten zu identifizieren wird immer schwieriger, je länger sich die Aufarbeitung der Verbrechen zieht. 

Um den Prozess zu beschleunigen, arbeitet die Internationale Kommission für Vermisste Personen auch mit hinterbliebenen jesidischen Familien. "Das geschieht durch Bildungs-, Schulungs- und Zuschussprogramme, die darauf abzielen, Familienmitglieder und andere Personen aufzuklären", erklärt Hug. "Denn nur wer weiß, welche Rechte er oder sie hat, kann diese auch gegenüber der Regierung einklagen."

Grade Beerdigungen gelten als wichtiger Schritt im Trauerprozess. Dass die Jesiden ihre Toten nach und nach begraben können, hat auch einen persönlichen Stellenwert: Es gibt den Hinterbliebenen Gewissheit. Das kann helfen, das Trauma der Verbrechen zu überwinden.

Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 22. September 2019 um 14:10 Uhr und 03. August 2020 um 06:44 Uhr.