Zwei Personen schauen dabei zu, wie Rettungsteams in einem zerstörten Gebäude nach Menschen suchen.
Reportage

Erdbeben-Epizentrum in der Türkei Bleiben oder gehen?

Stand: 13.02.2023 10:25 Uhr

In Elbistan war das Epizentrum des zweiten Bebens in der vergangenen Woche. Die wenigen Häuser, die noch stehen, sind leer und die Nächte bitterkalt. Viele Menschen wollen weg oder haben die Region schon verlassen. Andere bleiben.

Der Boden in Elbistan schwankt immer noch. Es fühlt sich an wie auf einem Floß im Wasser. Das gehe die ganze Zeit so, erklärt Ridvan, ein junger Mitarbeiter der Stadtverwaltung, ein Nachbeben nach dem anderen: "Natürlich habe ich Angst, wie auch nicht. Aber ich habe keine Angst mehr vor dem Erdbeben. Ich habe Angst, dass die Menschen nicht mehr zurückkommen. Denn ich habe meine Heimat verloren."

Die Stadt Elbistan ist Epizentrum des zweiten Bebens am Montag Mittag. Sie hat 150.000 Einwohner, 100.000 Menschen fliehen in den Tagen nach dem Beben. Auch Ridvans Familie ist weg. Sie kommen in Hotels in Antalya unter, einige hundert Kilometer westlich. Der 32-Jährige steht in einer dünnen Jacke in der Dunkelheit bei -15 Grad am Busbahnhof. Es brennen mehrere Feuer, an denen sich die Menschen wärmen.

Eine Familie kommt mit Rollkoffern. Einer der Helfer fragt nach Leuten, die nach Antalya wollen. Auch Ali steht mit seiner Familie am Feuer. Er wolle sie in den Bus nach Istanbul setzen, erzählt der Mann, dessen Mütze und Gesicht durch den Staub und Dreck fast die gleiche Farbe haben. Kinder haben sie keine dabei, aber eine Frau im Rollstuhl, die unter einer dicken Wolldecke kaum zu sehen ist.

Ali erzählt: "Unsere Häuser sind Trümmerhaufen, sie sind komplett zerstört. Eines war ein Haus mit fünf Stockwerken. Es sind nur noch zwei übrig. Es sind Tote daraus geborgen worden. Zum Glück ist unseren Verwandten nichts passiert. Wir waren draußen während des Bebens, aber im Haus sind viele gestorben. Es war schlimm. Möge Gott so was nie mehr passieren lassen."

Erstes Beben warnte Einwohner

Viele sind durch das erste Beben einige Stunden davor gewarnt. Dessen Epizentrum liegt nur ein paar Kilometer weiter. Deshalb sind sie aus ihren Häusern raus. Trotzdem gibt es schon jetzt über 1000 Tote allein in Elbistan. Sechs Tage lang kommen Ali und seine Familie bei Verwandten unter. Aber es suchen immer mehr in deren Haus Unterschlupf. Am Schluss sind es knapp 40. Es wird einfach zu eng. Deshalb gehen sie jetzt.

Ridvan, der Mitarbeiter der Stadtverwaltung, schläft kaum seit dem Beben: "Es bebt ununterbrochen. Wir haben keine Schlafplätze. Es gibt Zelte, aber es ist kalt. Sie geben uns Heizöfen, aber nicht genug für so viele Menschen. In einem Zelt können höchstens drei oder vier Personen schlafen und das auch nur, wenn alle eng zusammen liegen."

Er ist inzwischen mit mehreren in einem Haus mit dicken Wänden und einem provisorischen Dach untergekommen. Wenn das einstürzt, passiere vielleicht nicht so viel, meint der 32-Jährige. Tagsüber arbeitet er: "Wir versuchen die Menschen zu versorgen, so gut es geht, mit Gaskochern, Speiseöl, Zucker, was sie eben brauchen. Wir wollen den Menschen, deren Häuser noch stehen, helfen, denn sie sind auf alles angewiesen. Geld zählt hier nicht mehr, die Supermärkte sind leer. Darum versuchen wir die Hilfsgüter vom Staat oder Spenden zu verteilen."

Ein Mädchen sitzt in einer Decke eingehüllt auf einem Stuhl und schaut in ein Feuer.

Viele Einwohner von Elbistan haben alles verloren.

Hoffnungsvoller Blick nach vorn

Baris ist aus Stuttgart gekommen. In einem dicken Winterparka und Wollmütze verteilt er Hilfsgüter. Seine Großeltern leben hier. Jedes Jahr macht er Urlaub in Elbistan: "Ich könnte hier blind durchlaufen, aber nach dem Erdbeben weiß ich gar nicht mehr, wo ich lang muss. Jedes Haus liegt unten. Alles ist kaputt."

Das Haus der Großeltern gibt es nicht mehr. Baris weiß, dass seine Familie auch nach Deutschland könnte. Doch die Großeltern wollen das Land nicht verlassen. "Wir haben hier alles. Wir sind hier aufgewachsen und sie wollen einfach nicht von hier weg."

Dabei haben sie schon längst alles verloren. Baris wünscht sich, dass er irgendwann im Urlaub wieder herkommen kann, wenn alles noch viel schöner als vorher wieder aufgebaut ist. Auch Ridvan, der Mitarbeiter der Stadtverwaltung, spricht vom Wiederaufbau seiner Heimat, ob er daran allerdings wirklich glaubt? Seine Augen wirken leer, ohne auch nur einen Funken Hoffnung.

Karin Senz, Karin Senz, ARD Istanbul, zzt. Elbistan, 13.02.2023 06:47 Uhr

Dieses Thema im Programm: Dieser Beitrag lief am 12. Februar 2023 um 20:25 Uhr auf Inforadio.