Straßenszene in Kabul
Interview

Lage in Afghanistan "Neue Ordnung noch in der Schwebe"

Stand: 25.08.2021 11:46 Uhr

Noch habe sich im alltäglichen Leben in Kabul wenig verändert, berichtet der Journalist Franz J. Marty im Interview. Doch viele Menschen hätten Angst und erwarteten, dass die Taliban sehr konservative Gesetze erlassen werden.

tagesschau.de: Wie erleben Sie die Stimmung in Kabul - hat sich das alltägliche Leben geändert, ist in der Stadt etwas von der Aufregung rund um den Flughafen zu spüren?

Franz J. Marty: Im Zentrum von Kabul ist es verhältnismäßig ruhig. Die meisten Läden sind geöffnet; Banken und Wechselstuben sind jedoch nach wie vor geschlossen, was ein Problem ist. Man spürt auf den Straßen auch noch keine große Veränderung und das tägliche Leben nimmt weiterhin seinen Gang. Es sind weiterhin Frauen anzutreffen, wenn auch weniger. Und die Taliban haben zumindest bisher keine neuen Kleidungsvorschriften erlassen oder bestimmt, dass Frauen einen männlichen Familienangehörigen als Begleiter haben müssen. Frauen tragen natürlich ein Kopftuch, vielfach auch eine Burka, aber das war vorher nicht anders. Man sieht auch weiterhin Menschen in westlicher Kleidung, die - soweit ersichtlich - bisher von den Taliban nicht behelligt wurden.

Das soll aber nicht heißen, dass die Lage völlig normal wäre. Viele Leute haben panische Angst, viele verlassen das Haus nicht, manche nur in traditioneller Kleidung. Das war schon vorher eine Stärke der Taliban. Viele fürchten sich so sehr vor ihnen, dass sie sich so verhalten, wie sie sich vermeintlich verhalten sollen - ohne dass die Taliban das eigens sagen müssten. Eine Art vorauseilender Gehorsam. Dies kommt nicht von ungefähr. Die Taliban sind nicht zimperlich und nur, weil sie sich derzeit zurückhalten, muss es nicht so bleiben.

Viele Afghanen machen sich auch Sorgen, dass die Wirtschaft abstürzen wird und sehen dies als eines der größten Probleme. Sie sagen, dass die Taliban vielleicht auf ihre Art für Sicherheit im Land sorgen können, aber dass es keine Arbeit geben wird.

Franz J. Marty
Zur Person

Franz J. Marty stammt aus der Schweiz und arbeitet als freischaffender Journalist in Afghanistan. Von dort berichtet er derzeit unter anderem regelmäßig für die Deutsche Welle.

Manche kehren in den Heimatort zurück

tagesschau.de: Kommen weiter Menschen aus anderen Teilen des Landes nach Kabul - in der Hoffnung, das Land auf dem einen oder anderen Weg verlassen zu können?

Marty: Das scheint nicht der Fall zu sein oder zumindest nicht häufig. Es gibt sogar Berichte über Gegenteiliges: dass Menschen, die vor dem Sieg der Taliban nach Kabul geflüchtet sind, in ihrer Heimat zurückkehren. Ich habe beispielsweise von Leuten gehört, die von Kundus nach Kabul geflohen sind, jetzt aber wieder zurückgingen oder zurückgehen wollten, weil sie glauben, dass die Lage dort besser ist als in Kabul.

tagesschau.de: Wie gefährlich ist die Lage für örtliche Mitarbeiter von Hilfsorganisationen?

Marty: Das hängt vom Einzelfall ab. Für einige besteht, je nach dem, was sie genau gemacht haben, eine Gefahr, für andere nicht oder nur sehr beschränkt. Generell gibt es derzeit keine Anzeichen, dass die Taliban Leute, die für Hilfsorganisationen gearbeitet haben, systematisch verfolgen und bedrohen würden. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sind weniger gefährdet als beispielsweise die Tausenden bisherigen Mitarbeiter des afghanischen Geheimdienstes oder der Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte. Diese hatten die Taliban erbittert bekämpft und sind deshalb vielen Taliban verhasst.

tagesschau.de: Erwarten Sie eine Veränderung der Lage, wenn die Taliban ihre Macht im Land gefestigt haben?

Marty: Ja, daran gibt es kaum Zweifel. Das erste Ziel der Taliban war, die ausländischen Streitkräfte aus dem Land zu vertreiben. Das haben sie praktisch erreicht. Das zweite Ziel ist die Errichtung eines islamischen Systems nach ihren Vorstellungen. Und es ist sonnenklar, dass sie die Verfassung ändern werden, weil die ihnen nicht islamisch genug ist, auch wenn in dieser die Scharia als höchstes Gesetz erwähnt wird. Sie werden aller Voraussicht nach auch das Staatssystem umbauen und Gesetze einschneidend ändern. Möglicherweise wird es nicht so ultra-konservativ werden, wie Ende der 1990er-Jahre. Aber dass ihnen die bisherige Ordnung nicht islamisch genug ist, haben sie stets betont.

Unterschiede von Region zu Region

tagesschau.de: Was hören Sie aus den Provinzen - ist dort auch dieser Übergangszustand zu beobachten?

Marty: Die alte Ordnung wurde gestürzt, die neue ist noch in der Schwebe. Es gibt noch keine neue Regierung, aber die Taliban haben begonnen, Provinzgouverneure zu ernennen. Ich höre aus vielen Orten wie Feisabad oder Herat, dass die Taliban das tägliche Leben bisher weitgehend weiterlaufen lassen und keine großen Änderungen angeordnet haben. In einigen ländlichen Gebieten haben die Taliban jedoch neue Gesetze erlassen, die Frauen verbieten, ohne männliche Begleitung vor die Tür zu gehen, die Musik und Rauchen verbieten. Solche Gesetze und deren effektive Durchsetzung scheinen von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich zu sein.

tagesschau.de: Kann das auch mit unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Taliban zusammenhängen, die noch um die Vorherrschaft ringen?

Marty: Die Taliban sind nicht monolithisch. Aber insgesamt zeigen sie sich bislang ziemlich geeint. Die Berichte über Friktionen waren wohl mehr Wunschdenken der vorherigen afghanischen Regierung oder internationaler Streitkräfte, die hofften, die Taliban aufsplittern zu können. Zumindest bisher hat es kaum Anzeichen gegeben, dass die Taliban in mehrere Fraktionen zerfallen könnten. Im Jahre 2015 kam es zu Zwistigkeiten, die daraus entstandene sehr kleine Splittergruppe vermochte dann aber nie, die Hauptgruppe signifikant zu gefährden.

Die Taliban haben bisher ihre Forderungen möglicherweise bewusst vage gelassen, um Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe vorzubeugen. Ob und inwiefern sich das nun ändern wird, da die Taliban jetzt regieren und sich mit lästigen Einzelheiten befassen müssen, wird die Zukunft zeigen.

"Es wird neue Regeln geben"

tagesschau.de: Wie ist Ihre persönliche Situation - können Sie ungehindert arbeiten?

Marty: Ich gebe derzeit sehr viele TV-Interviews und bin deshalb selten auf der Straße. Wenn ich nach draußen gehe, habe ich bislang keine Probleme. Ich bin zwar leicht als Ausländer zu erkennen, aber die Taliban, an denen ich vorbei ging, haben mich bisher nicht angehalten, nicht einmal beachtet. Von ausländischen Kollegen höre ich, dass die Taliban ihnen gegenüber zunächst offen waren und freimütig Auskunft gaben. Inzwischen hat es aber angeblich eine Anweisung gegeben, dass sie ohne Bewilligung nicht mehr mit Journalisten sprechen sollen. Die Taliban haben auch einige Bemerkungen zur Medienarbeit gemacht und die Schaffung einer Medienkommission mit ihrer Beteiligung angekündigt.

Afghanische Journalisten konnten bislang auch mehr oder weniger frei berichten. Das heißt nicht, dass es nicht zu Problemen gekommen ist. Es gab Berichte, dass Journalisten an der Arbeit gehindert wurden oder Kameras zerstört worden sein sollen. In Dschalabad wurden zwei Journalisten, die Anti-Taliban-Proteste gefilmt hatten, offenbar auch verprügelt. Wie sich das weiter entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Aber es ist davon auszugehen, dass die Taliban striktere Regeln für Journalisten erlassen werden. Wie strikt, ist derzeit unklar.

tagesschau.de: Planen Sie, zu bleiben?

Marty: Ja. Die Situation ist, abgesehen vom Flughafen, überraschend ruhig. Die Taliban haben erklärt, dass Diplomaten, humanitäre Organisationen und Journalisten bleiben sollen. Das machen sie natürlich nicht aus Herzensgüte, sondern weil sie davon profitieren. Von ausländischen Journalisten erhoffen sie sich durch Berichterstattung beispielsweise eine gewisse internationale Anerkennung. Was diese Garantien über den Tag hinaus bedeuten, weiß man zwar nicht. Aber im Moment sehe ich mich keiner signifikanten Gefährdung ausgesetzt.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 25. August 2021 um 12:00 Uhr.