Cristian Tinoco, Tochter des Ex-Außenministers und Präsidentschaftskandidaten Victor Hugo Tinoco

Nicaraguas Opposition "Will nicht sterben, bevor mein Land frei ist"

Stand: 26.06.2021 11:25 Uhr

Erst wurde ihr Vater, einst hochrangiger Regierungspolitiker, verhaftet, dann kam die Polizei auch zu Cristian Tinoco. Mit allen Mitteln schüchtert Präsident Ortega Nicaraguas Opposition ein. Nur wenige trauen sich noch zu sprechen.

Eigentlich war das Interview schon fest zugesagt, der Dreh sollte am Morgen stattfinden. Doch in der Nacht kommt die Absage: "Bitte verzeihen Sie mir, aber ich habe Angst meine Familie, vor allem meinen Vater, in Gefahr zu bringen." Es ist Cristian Tinoco, die Tochter von Victor Hugo Tinoco, ehemaliges Regierungsmitglied von Präsident Daniel Ortega, der zu den mindestens 15 Oppositionellen gehört, die in diesem Monat verhaftet wurden.

Seine Festnahme hatte Tinoco wohl vorhergesehen, denn er hat ein Video aufgenommen für den Fall seines Verschwindens: "Wenn Sie dieses Video sehen, dann weil ich von der Polizei der Ortegas verhaftet wurde. Ich möchte Ihnen versichern, dass unser Kampf weitergeht, damit es in unserem Land eine Demokratie gibt mit freien Wahlen, denn das ist unser Recht", sagt er darin.

Seine Tochter Cristian leidet unter Krebs. Und die Sorgen um ihren Vater lassen die Kräfte schwinden, sagt sie. Seit drei Wochen weiß sie nichts von ihm. Drei Mal am Tag gehe sie zum Gefängnis. Doch es gibt keine Auskunft. Nur Wasser dürfen sie den Polizisten übergeben, mehr nicht. "Er wurde illegal verhaftet, sie haben ihn einfach mitgenommen. Sie hatten nicht mal einen Haftbefehl", sagt sie.

Cristian Tinoco, Tochter des Ex-Außenministers von Venezuela, Victor Hugo Tinoco.

Cristian Tinoco, Tochter des Ex-Außenministers und Präsidentschaftskandidaten Victor Hugo Tinoco, zeigt ein Bild, an dem ihr Vater mit dem aktuellen Präsidenten Daniel Ortega sitzt.

Ortegas Gegner verhaftet und in Hausarrest

Mehrere Tage nach der Verhaftung hörte sie heftige Schläge am Gartentor. Dutzende, schwer bewaffnete Polizisten drängten zur Öffnung. In größter Angst sendete Cristian ein Live-Video: "Wir sind nur Frauen, wir sind unbewaffnet. Hilfe, wir bitten die Medien, kommt! Wir brauchen Hilfe!"

In schwarzer Kampfausrüstung drang die Polizei ins Haus ein, nahm Laptop, Dokumente, den Pass ihres Vaters mit. Der Spuk war schnell vorbei. Die Angst aber zerfrisst ihre Seele. "Ich schlafe schlecht, schrecke nachts auf aus Angst, wann sie mit welcher Ausrede wiederkommen", sagt sie.

So wie Cristian Tinoco ergeht es derzeit vielen Familien von Oppositionellen. Im November sollen Präsidentschaftswahlen in Nicaragua stattfinden. Ortega, der mit 75 Jahren wieder antritt, will seine Macht keinesfalls aufgeben. So unverhohlen wie noch nie wird die Möglichkeit für freie und faire Wahlen vereitelt: Seine fünf aussichtsreichsten Gegner in der Präsidentschaftswahl wurden in den vergangenen Tagen verhaftet oder unter Hausarrest gestellt.

"Sie verhindern, dass wir unsere Arbeit machen"

Möglich wurde das vor allem mit Hilfe von Gesetzespaketen, die Ortegas Sandinistische Partei verabschiedet hat und deren Inhalt sich unter den Oberbegriffen Terrorismus, Geldwäsche und Vaterlandsverrat zusammenfassen lässt. Wer etwa in irgendeiner Form Geld aus dem Ausland annimmt, auch durch Stiftungen, fällt derzeit ins Visier dieser Gesetze - wenn er zur Opposition gehört.

Alfonso Flores, ein Journalist aus Nicaragua

Der Journalist Alfonso Flores ist einer der wenigen, der sich noch traut, mit ausländischen Journalisten über die Lage zu sprechen.

Auch Journalisten müssen Repressionen fürchten. Für Interviewanfragen des ARD-Studios Mexiko-Stadt hagelt es zunächst absagen. "Die Regierung ist nicht daran interessiert, dass die Welt weiß, was in Nicaragua passiert. Dieser Zustand der Rechtlosigkeit, der permanenten Unterdrückung", sagt Alfonso Flores. Er ist Korrespondent für ausländische Medien und einer der wenigen, der sich zu reden traut.

Die Bedrohung geht von der Polizei aus. Sie verhindern, dass wir unsere Arbeit machen. Manchmal nehmen sie uns die Kameras ab, schauen was gefilmt wurde und löschen sogar das Material.

UN-Menschenrechtskommissarin fordert Freilassung

Oder sie erhalten Nachrichten von Unbekannten, die sie damit bedrohen, dass diese Namen, Wohnort und Familie kennen. Flores glaubt, das Ziel sei die Einschüchterung, damit nicht berichtet werde, schon gar nicht anders als die linientreuen Medien es tun.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, spricht von einem Klima der Angst. Die Krise in Nicaragua habe sich auf alarmierende Weise zugespitzt, "die Menschenrechte verschlechtern sich rapide und besorgniserregend. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen in Nicaragua ihre politischen Rechte am 7. November ausüben können", sagt sie.

Bachelet fordert die Freilassung der Gefangenen: "Ihre Verhaftung erfolgte unter zweifelhafter Rechtsauslegung und ohne hinreichende Beweise. Mit schweren Verstößen gegen die Prozessordnung."

Ortega denkt nicht daran, dem Aufruf Folge zu leisten: Seine Regierung lasse Verbrecher, die gegen ihn einen Putsch planen, verhaften und strafrechtlich verfolgen, sagte er in einer Rede.

UN-Menschenrechtskommisarin Bachelet

UN-Menschenrechtskommisarin Michelle Bachelet fordert von der Regierung Ortega die Freilassung aller Gefangenen - bislang konsequenzlos.

Einst Volksheld, nun selbst bald Diktator?

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Ortega Nicaragua geradewegs in Richtung Diktatur führt. Ende der 1970er-Jahre vertrieb er zusammen mit der linken, sandinistischen Guerilla den Diktator Anastasio Somoza Debayle von der Macht. Ortega wurde zum Volkshelden. Auch in Deutschland wurde er von vielen als Freiheitkämpfer verehrt. Ortega versprach Meinungsfreiheit, Chancengleichheit, Bildung und Gesundheit für die Ärmsten - und zunächst handelte er auch danach.

Längst hat er sich davon verabschiedet. Seine Familie und er kontrollieren die Polizei, den obersten Wahlrat, den obersten Gerichtshof, das Parlament. Und was sich mit Gesetzen nach Ortegas Gusto nicht erreichen lässt, das vollstrecken regierungsnahe Paramilitärs, indem sie mit Drohungen, Prügel und Waffengewalt jeden offenen Protest unterdrücken.

Bei Cristian Tinoco hat die Einschüchterung nicht lange angehalten. Sie gibt wieder Interviews. "Ich will nicht sterben, ohne meinen Vater noch einmal zu sehen", sagt sie. "Ich will nicht sterben, bevor mein Land frei ist."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 19. Juni 2021 um 13:45 Uhr.