
Haiti nach Präsidentenmord "Das ist ein gefährlicher Cocktail"
Die Ermordung des haitianischen Präsidenten Moïse hat das Land in eine Schockstarre versetzt. Beobachter befürchten ein Machtvakuum. Der UN-Sicherheitsrat rief alle politischen Akteure zu Zurückhaltung auf.
Die "mutmaßlichen Mörder" von Präsident Jovenel Moïse sollen kurz nach sechs gestern Abend, keine 20 Stunden nach dem Mord, von der Polizei gefasst worden sein. "Sie befindet sich immer noch im Kampf mit den Angreifern", ließ der Polizeichef Leon Charles in einer Ansprache im Fernsehen wissen.
Bisher sollen in den Kämpfen vier der Angreifer getötet, zwei weitere festgenommen worden sein. Vieles ist nach wie vor ungeklärt. Laut einer ersten Nachricht von Joseph Claude, dem Interimspräsidenten, sollen die Täter Englisch und Spanisch gesprochen haben.
"Wir sehen keine freudigen Demonstrationen"
Die Nachricht des Mordes hatte das Land in eine Schockstarre versetzt. Es sei zu früh, um absehen zu können welche Konsequenzen die Ermordung des Präsidenten haben wird, erklärt der haitianische Politologe und Soziologe Wilson Jean Baptiste: "Wir wissen nicht, ob uns diese Situation zu einer Lösung der Krise führen wird. Wir sehen auf den Straßen keine freudigen Demonstrationen. Der scheidende Ministerpräsident hat den Ausnahmezustand erklärt."
Haiti befinde sich in einer riskanten Situation, niemand wisse, wie es weitergehe, so Baptiste. "Das ist ein gefährlicher Cocktail."
Präsident mit Verbindungen zu den Gangs?
Die Gewalt eskalierte bereits in den letzten Monaten und hat Tausende Menschen in die Flucht getrieben. Kidnappings gehören in der Hauptstadt Port-au-Prince zum Alltag. Kriminelle Banden kämpfen um ihren Einflussbereich in den Stadtteilen.
Von der Opposition wurden Moïse immer wieder enge Verbindungen zu den Gangs vorgeworfen und sogar, dass er sie gegen die Opposition einsetzen würde. Ein kürzlich veröffentlichter Report, den die Harvard-Universität mit der haitianischen Beobachtungsstelle für Verbrechen gegen die Menschlichkeit herausgebracht hat, sieht diesen Zusammenhang ebenfalls.
Wilson Jean Baptiste befürchtet nun ein Machtvakuum: "Auch wenn der Präsident umstritten war - jetzt gibt es tatsächlich niemanden mehr im Nationalpalast. Es gibt keine einzige funktionierende Institution mehr, das Parlament funktioniert nicht, das Justizsystem funktioniert nicht, wir müssen aber irgendwie einen Weg finden, um das Haiti von morgen zu definieren."
Mehr als 3000 Personen besitzen Kriegswaffen
Seit fast zwei Jahren regierte Moïse per Dekret. In den vergangenen vier Jahren wechselte er vier Mal den Regierungschef aus. Erst am Montag hatte er die Ernennung des neuen Regierungschefs Ariel Henry bekannt gegeben, der Claude Joseph nach nur drei Monaten im Amt ablösen sollte.
Für den Moment scheint Joseph jedoch seinen Sitz nicht verlassen zu wollen. Das größte Problem: Es fehle eine einende Persönlichkeit meint Baptiste. Nun müsse es dringend Gespräche der verschiedenen Protagonisten geben: "Ein Dialog zwischen den politischen, den wirtschaftlichen Akteuren und den sozialen Akteuren und anderen Bereichen der Zivilgesellschaft - gerade auch angesichts der Tatsache, dass wir in einem Land leben, in dem es mehr als 3000 bewaffnete Personen gibt, die Kriegswaffen besitzen."
Der UN-Sicherheitsrat befasst sich nach Angaben aus Diplomatenkreisen heute in einer Dringlichkeitssitzung mit dem Mord an Haitis Präsidenten. Zuvor rief er die Politik des Landes bereits zur Mäßigung auf. Es gelte alles zu vermeiden, was die Lage weiter destabilisiere. Alle politischen Kräfte müssten sich in Zurückhaltung üben.