
Algerien "Die Leute haben keine Angst mehr"
Stand: 26.03.2019 16:54 Uhr
Protestchöre statt Geburtstagsgrüße - Algeriens Präsident Bouteflika wird 82 und will eine fünfte Amtszeit. Doch die Bevölkerung hat die Geduld verloren und lässt sich nicht mehr einschüchtern.
Von Stefan Ehlert, ARD-Studio Rabat
"Ihr habt das Land ausgeplündert, ihr seid Diebe", rufen sie. Tausende waren es erneut auf den Straßen von Algier und in anderen Städten: Gegen "le pouvoir", gegen "die Macht" und gegen weitere fünf Jahre Bouteflika. An der Kandidatur von Abdelaziz Bouteflika für eine fünfte Amtszeit als Staatschef entzündeten sich die Proteste.
Diese Kandidatur sei rechtswidrig, sagt Abdelghani Badi von der Bürgerwegung Mouwatana im Interview mit dem ARD-Studio Nordwestafrika: "Die Machthaber verstoßen gegen das Wahlrecht." Schon allein das Gesundheitsattest des Präsidenten sei gefälscht und an sich schon ein Verstoß gegen das Wahlrecht.
Forderungen nach einer neuen Republik
Bouteflika wird an diesem Wochenende 82 Jahre alt, ist seit Jahren an den Rollstuhl gefesselt, tritt selten öffentlich auf. Ob er mündlich und persönlich seine Kandidatur erklären könnte, ist mehr als fraglich. Die Wahlen, wenn sie denn stattfinden, sind bereits in sechs Wochen.
Doch Teile der Opposition fordern, den Wahlprozess zu stoppen. "Die Forderungen müssen jetzt auf einen Übergangsphase abzielen und die Bildung einer verfassungsgebenden Versammlung, um eine zweite Republik zu gründen, eine Republik nach Bouteflika", sagt Bürgerrechtler Badi.
Tausende Algerier demonstrieren gegen erneute Amtszeit von Präsident Bouteflika
tagesthemen 00:00 Uhr, 02.03.2019, Stefan Schaaf, ARD Madrid
Erinnerung an den Bürgerkrieg
Davon will die Regierung in Algier nichts wissen. Premier Ahmed Ouyahia erinnerte im Parlament an den Beginn des algerischen Bürgerkriegs, als das Militär den Wahlprozess stoppte, weil ein Sieg der Islamisten drohte. "Erinnern Sie sich an 1991, das war wie heute. Proteste gegen das Regime. Und jetzt habe ich gelesen, es gebe einen Streikaufruf. Erinnern Sie sich an den Streik von 1991!"
Die Folge waren zehn Jahre Blutvergießen mit 60.000 bis 200.000 Toten. Auch der bislang friedliche Protest in diesen Tagen sei ein Spiel mit dem Feuer, warnte der Premier mit Blick auf andere arabische Länder: "Vielleicht erinnern wir uns mal: Auch in Syrien hat es mit Rosen begonnen."
Massive Polizeipräsenz
Die Anspielungen klingen für viele, als wolle die Regierung die Schuld an einer möglichen Eskalation der Lage schon mal vorsorglich den Demonstranten zuweisen. Und sie schließt nicht aus, massive Gewalt anzuwenden. Bereits bei den heutigen Protestzügen sollen nach Informationen des Infoportals Mondafrique 80.000 Polizisten im Einsatz gewesen sein. Sie setzten Tränegas ein, es kam zu Festnahmen, aber die Demonstrationen wurden nicht unterbunden.
Kamel Daoud, der bekannte algerische Schriftsteller, sagte dem französischen Radiosender RTL, er rechne mit repressiveren Maßnahmen, aber: "Die Leute haben keine Angst mehr. Die Mauer der Angst ist eingestürzt. Es ist außergewöhnlich, es läuft einem ein Schauder über den Rücken, der Enthusiasmus, die Freude. Die Menschen sind nicht mehr eingeschüchtert."
Kluft zwischen Armen und Reichen
Die soziale Misere trägt dazu bei, die Menschen auf die Straße zu treiben. Viele empfänden ihre Situation als unerträglich, sagt Abdelghani Badi von der Bürgerbewegung Mouwatana: "Die ökonomische Lage ist sehr schwierig. Wir haben das Stadium der heimlichen Auswanderung erreicht, es gibt Selbstmorde, die Kriminalität, eine katastrophale soziale Situation. Wenn wir das vergleichen mit dem Geld in der Staatskasse und den Gewinnen aus dem Erdöl, dann stößt man auf ein politisches, ökonomisches und soziales Versagen, das gegen die Interessen die algerischen Volkes verstößt."
Mit der Lethargie in Algerien ist es jedenfalls vorbei, das haben die neuen Proteste wieder gezeigt. Doch die Opposition ist gespalten, nicht zuletzt in der Frage, wer denn auf Bouteflika folgen soll.
Die Reihen des Regimes wirken dagegen noch fest geschlossen, dazu gehört vor allem das Militär. Gerüchte kursieren trotzdem, man suche einen Plan B, setze auf Zeitgewinn. Doch die Zeit drängt. Am Sonntag wird die Kandidatenliste für die Wahlen am 18. April geschlossen.
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