
Völkermord in Ruanda "Ohne Gerechtigkeit keine Versöhnung"
Vor 25 Jahren begann die juristische Aufarbeitung des Völkermordes in Ruanda - eine fast unlösbare Aufgabe in einem Land, in dem fast die gesamte Bevölkerung zu Tätern geworden ist.
Die Backsteinmauern der ehemaligen katholischen Kirche von Naymata sind von Schüssen zernarbt. Durch Einschusslöcher im Dach fallen Sonnenstrahlen auf Berge von Hemden, Hosen und Kleidern - die Kleidung von mehr als 10.000 Menschen, die in dem Gotteshaus von Milizen und Militärs niedergemetzelt wurden.
Es war wie ein Wettkampf des Tötens. Einige haben getötet und die Opfer dann niedergetrampelt, als würden sie dafür bezahlt. Sie haben Macheten benutzt, Hämmer, Äxte und alle möglichen anderen Werkzeuge. Ich weiß nicht, wo sie die alle herhatten. Es war wirklich grauenvoll.
Charlotte hat das Blutbad zusammen mit nur sechs anderen Menschen überlebt - schwer verletzt, für tot gehalten und zurückgelassen. Das Massaker von Nyamata war eines der schlimmsten des Völkermordes in Ruanda 1994.
Mindestens 800.000 Tutsi wurden getötet
"Nach dem Völkermord, der das schlimmste Verbrechen war, das jemals in Ruanda verübt wurde und das mit dem größten Ausmaß, brauchten wir Gerechtigkeit. Denn ohne Gerechtigkeit kann es keine wirkliche Versöhnung geben", sagt Fidèle Ndayisaba von der staatlichen Kommission für Einigkeit und Versöhnung.
Eine fast unlösbare Aufgabe in einem Land, in dem fast die gesamte Bevölkerung zu Tätern geworden ist. Nachbarn haben Nachbarn überfallen - aufgehetzt von der politischen Führung und von Hassbotschaften gegen die Tutsi im Staatsradio Mille Coline: "An alle Kakerlaken, die uns zuhören. Ruanda gehört denen, die es verteidigen. Und ihr Kakerlaken seid keine Ruander."
Am Ende der von langer Hand vorbereiteten 100 Tage des Mordens sind mindestens 800.000 Tutsi und gemäßigte Hutu tot. Hunderttausende Täter sitzen in den Gefängnissen und warten auf ihren Prozess. Oft jahrelang.
Traditionelle Dorfgerichte wurden wiederbelebt
"Nach dem Genozid waren alle unsere Institutionen, auch das Justizsystem, völlig zerstört. Damit hätten wir vier- oder fünfhundert Jahre auf Gerechtigkeit warten müssen", sagt Justizminister Johnston Busingye.
Die Gerichte beginnen ihre Arbeit rund zweieinhalb Jahre nach dem Genozid. Aber etwa zwei Millionen Täter müssen sich vor Gacacas verantworten, den traditionellen Dorfgerichten aus vorkolonialer Zeit, die Ruanda zu diesem Zweck wiederbelebt hat.
Oftmals steht Aussage gegen Aussage
Es ist das Jahr 2009. In einem kleinen Dorf im Süden Ruandas wird der Fall von Kassian verhandelt, angeklagt wegen mehrfachen Mordes. Der erste Zeuge belastet Kassian schwer: "Er hat am Genozid teilgenommen und es gibt viele Zeugen dafür. Ich bin zum Gacaca gekommen, weil diese Zeugen ihn gesehen haben, wie er meine Familie ermordet hat. Sie können sagen, ob er schuldig ist. Die Mörder von damals kamen von hier, aus diesem Dorf."
Kassian weist jede Schuld von sich. Er war bei den Mördern, sagt er, aber nur, weil sie ihn gezwungen haben. Selbst gemordet hat er nicht, beteuert er auf Nachfrage des Richters. Er wollte nur nicht selbst getötet werden.
Aussage steht gegen Aussage - eine schwierige Entscheidung für das Gericht, das auf der Grundlage von 15 Jahre alten Erinnerungen urteilen muss, ohne Akten oder Beweise.
Balance zwischen Gerechtigkeit und Versöhnung
Die Arbeit der Gacacas ist deshalb international schwer kritisiert worden, aber sie war notwendig, beteuert Ndayisaba von der staatlichen Kommission für Einigkeit und Versöhnung. "Die Leute hatten eine Plattform, um zusammenzukommen und die Wahrheit aufzudecken. Sie haben Gelegenheit gegeben, zu gestehen, zu bereuen und um Vergebung zu bitten. Aber gleichzeitig haben sie verurteilt, um Straflosigkeit zu vermeiden."
Gerechtigkeit auf der einen Seite, Versöhnung und Einigkeit auf der anderen - das war das Ziel der juristischen Aufarbeitung der Gräuel von 1994. Um den Hass zu beenden und zu verhindern, dass so etwas je wieder geschieht.
"Wir müssen mit der Situation fertig werden, dass die Angehörigen der Opfer mit den Mördern ihrer Familien wieder Tür an Tür leben. Das ist das Leben, das die Menschen hier ertragen müssen", hat Präsident Paul Kagame - selbst Tutsi und Anführer der Truppen, die dem Morden nach 100 Tagen ein Ende bereiteten - immer wieder betont.
Kritik an juristischer Aufarbeitung
Frederique etwa lebt heute in einem sogenannten Dorf der Versöhnung, neben einer jungen Frau, deren Angehörige er ermordet hat. "Ich habe am Völkermord an den Tutsi teilgenommen", sagt er. "Ich wohne hier, weil ich um Vergebung gebeten habe. Und mir wurde vergeben, dass ich meinem Land so untreu geworden bin."
Die Gacacas haben ihre Arbeit längst eingestellt, genau wie der Internationale Gerichtshof für Ruanda (ICTR), der rund 100 Drahtzieher des Völkermordes abgeurteilt hat. Die Kritik an der juristischen Aufarbeitung des Völkermordes bleibt.
"Das waren politische Prozesse, weil nur Hutus angeklagt wurden", sagt Lennox Hinds, Strafverteidiger am ITCR. "Obwohl es klare Beweise gibt, dass Tutsis ebenfalls Kriegsverbrechen begangen haben."
Racheakte der Tutsi-Truppen werden totgeschwiegen
Tatsächlich werden die Racheakte der Tutsi-Truppen nach dem Völkermord in Ruanda totgeschwiegen. Solche Vorwürfe kommen einem Leugnen des Genozids gleich. Trotzdem sind über 92 Prozent der Ruander überzeugt, dass die nationale Aussöhnung gelungen ist. Und dass es Gerechtigkeit nach dem Völkermord gegeben hat. So weit das überhaupt möglich war.
"Gerechtigkeit für die Verbrechen des Genozids kann niemals voll erreicht werden. Die Justiz kann immer nur eine unvollständige Antwort auf solche Verbrechen geben", meint Jean de Dieu Mueyo von der Nationalen Kommission für den Kampf gegen den Genozid.