In einem Flüchtlingslager im Bekaa-Tal (Libanon) tragen Menschen Wasserkanister

Syrische Flüchtlinge im Libanon Die Müllkinder von Beirut

Stand: 20.06.2022 04:58 Uhr

Der Libanon hat im Vergleich zur Einwohnerzahl weltweit am meisten Flüchtlinge aufgenommen - auch aus Syrien. Wegen der Wirtschaftskrise müssen Kinder oft im Müll wühlen, um den Lebensunterhalt der Familien zu sichern.

Eigentlich sieht man sie kaum. Unter einer Autobahnbrücke im Randbezirk von Libanons Hauptstadt Beirut bewegt sich ein riesiger Müllsack voller Plastikflaschen. Darunter schauen zwei dünne Beinchen hervor. Salladin hat eifrig gesammelt. Alles, was die Leute so wegwerfen.

Den ganzen Morgen schon hat er die Müllcontainer der Hauptstadt durchsucht. "Das werde ich verkaufen. Pro Kilo bekomme ich etwas Geld", erzählt er. 40.000 Lira verdiene er am Tag, sagt er stolz. Sein kleiner Bruder korrigiert ehrlich: Nein, es sind 20, 30.000 manchmal an besonders guten Tagen 40. Oder 50."

50.000 Lira, der Top-Verdienst - das wären weniger als zwei Euro am Tag. Sie sehen sehr ernsthaft aus, wenn die Müllkinder Beiruts über die Marktpreise sprechen, fast erwachsene Züge in den kleinen schmutzigen Gesichtern. Sie sind zehn und elf Jahre alt - und Flüchtlinge aus Syrien.

1,5 Millionen Flüchtlinge - bei sechs Millionen Einwohnern

Einige Dutzend Kilometer weiter, Richtung syrische Grenze - in der Bekaa-Ebene: Hier leben die meisten syrischen Flüchtlinge. 1,5 Millionen Syrer hat der Libanon in den vergangenen Jahren aufgenommen, und das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen - und das in einem Land mit gerade mal selbst rund sechs Millionen Einwohnern. Gemessen an seiner Bevölkerungsdichte hat der Libanon weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen.

Zainab steht bis zu den Knöcheln im Müll. Hier sortieren die Kinder, was sie gesammelt haben. Hinter dem ärmlichen Lager aus improvisierten Zelten und Hütten türmen sich Plastik, Pappe und anderer Müll.

"Ich bin für die Plastiktüten zuständig. Ich sammle sie überall, dann verpacken wir sie in Säcke und verkaufen sie an Recylingfirmen. 3000 oder 4000 Lira bekomme ich pro Kilo. Davon kaufen wir uns Essen, um unseren Hunger zu stillen", erzählt sie.

Wirtschaftskrise verschlimmert die Lage

Wie lange sie sammeln muss, um ein Kilo Plastiktüten zusammenzutragen? Zainab zuckt mit den Schultern. Umgerechnet bekommt sie dafür weniger als 20 Cent. Zainabs Vater ist eigentlich ein Scheich, ein in Syrien angesehener Stammesführer. Jetzt muss Scheich Zakaria zusehen, wie seine Familie im Müll wühlt und hungert: "Ich bin Clanältester, ich bin ein Scheich. Ich schäme mich, wenn ich sage, dass wir vom Müll leben, aber so ist es", sagt er. "Wir sind von der Wirtschaftskrise im Libanon sehr betroffen. Normalerweise kaufe ich fünf Pakete Brot für die Familie, wir sind 13 Personen. Heute kann ich mir nicht mal zwei Pakete leisten, das ist für jeden weniger als ein kleines Fladenbrot. Ich esse nur noch einmal am Tag."

Die aktuelle Wirtschaftskrise im Libanon hat die Lage für die syrischen Flüchtlinge noch einmal deutlich verschlimmert. Neun von zehn Syrern leben nach Angaben der UN in tiefer Armut, fast 90 Prozent aller Flüchtlinge sind auf UN-Hilfe angewiesen. Das Problem: Seit einigen Jahren erhalten die Syrer ihre Unterstützung in libanesischer Lira statt in Dollar. Doch im Libanon herrscht Inflation, die Währung hat rund 90 Prozent ihres Wertes verloren.

"Es ist nicht genug"

Die Lebensmittelpreise sind um mehr als 600 Prozent gestiegen. Die Pro-Kopf-Hilfe der UN - mittlerweile reiche sie nicht mehr für das Nötigste, so Zakaria. "Es ist nicht genug. Die Hilfe reicht nicht mal für Öl oder einen Sack Zucker. Wir kochen mit Gas - und allein eine Gasflasche kostet 500.000 - und dann ist Monatsanfang und wir haben noch nichts gegessen. Wir wohnen in einem Zelt, aber wir müssen für den Platz Miete zahlen, 350.000. Strom kostet 500.000. Das Geld reicht vorne und hinten nicht. Was soll ich machen? Eigentlich kann ich mich nur noch umbringen, weil ich meinen Kindern nicht mehr helfen kann."

Sein Sohn Salem kommt gerade nach Hause. Der Zwölfjährige geht nicht zur Schule, sondern arbeitet bei Bauern auf dem Feld: Kartoffeln auflesen und Säcke schleppen - viel zu schwere Arbeit für den schmächtigen Jungen.

"Die Säcke zu tragen ist sehr schwer. Ein Sack wiegt etwa 60 Kilo", sagt er. "Manchmal schaffe ich es, manchmal nicht. Ich wiege selbst nur 40 Kilo. Nach der Arbeit tun mir meine Beine weh."

Umgerechnet einen Dollar am Tag verdient Salem für die Knochenarbeit. Mindestens ein Drittel der syrischen Kinder im Libanon hat nach Zahlen der UN noch nie eine Schule besucht, 28.000 Kinder müssen regelmäßig arbeiten.

Im Sommer zu heiß, im Winter zu feucht

Syrien kennen Salem und seine Geschwister nur aus Erzählungen, sie leben schon so lange im Libanon. Das Flüchtlingslager ist ihre Heimat geworden - auch wenn sie es nicht mögen: "Im Sommer ist es die Hölle", erzählt die elfjährige Shad. "Wir schlafen alle in einem Zimmer. Wir versuchen die Zimmer zu kühlen. Das Zimmer hat kein Fenster, und unser Ventilator ist kaputt."

Mutter Khadischeh bevorzugt dagegen den Sommer: "Die Hitze können wir ertragen, aber der Winter mit Regen und Schnee ist ein größeres Problem. Wenn es schneit, dürfen wir nicht einschlafen. Das Zeltdach stürzt ein. Wir verbringen die ganze Nacht mit Rausschöpfen des Wassers und Abtragen des Schnees vom Zeltdach, sonst bricht es ein."

Gerne würden sie zurück nach Syrien, beteuern die Eltern. Aber alle hier haben Angst vor dem Assad-Regime. Die Söhne müssten zur Armee. Und als Flüchtlinge würden die Familien als Verräter betrachtet. Ihr Dorf ist jetzt unter Regime-Kontrolle, ihr Haus zerstört.

Auf wackligen Beinen stapft ein kleines Mädchen durch das Zeltlager - sie hat gerade Laufen gelernt. Die Kleine heiße Watan, sagt ihre Mutter, und lächelt traurig: "Damit Syrien wenigstens ein bisschen bei uns ist." Watan heißt übersetzt: Heimatland.

Anna Osius, Anna Osius, ARD Kairo, 19.06.2022 23:58 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. Juni 2022 um 05:53 Uhr.